Afghanistan nach dem Truppenabzug: Böse Blicke, ohne Zukunft
Aamir Fazli arbeitet als Übersetzer für das Auswärtige Amt in Afghanistan. Sein Job exponiert und gefährdet ihn. Wie es nach dem Abzug weitergeht, weiß er nicht.
KUNDUS taz | Konzentriert steuert Aamir Fazli* den gepanzerten Jeep durch die engen Straßen eines Dorfs außerhalb von Kundus. Sein Ziel ist eine Brücke am gleichnamigen Fluss. Auf dem Beifahrersitz sitzt Gerhard Freese, er ist Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Der Bau der Brücke wurde mit dessen Geldern finanziert, und es gibt technische Probleme. Deswegen sind die beiden hier. Fazli parkt den Jeep in der Nähe der Brücke und steigt aus. Seinen Ausweis, der ihm Zugang zum deutschen Feldlager gewährt, versteckt er unter dem T-Shirt.
Einige Dutzend Männer arbeiten mit Spitzhacken, Schaufeln und Schubkarren im Flussbett und an der Zugangsstraße. Im Hintergrund ragen die zerklüfteten Gipfel des Pamirgebirges in den blauen Himmel. Als die Bauarbeiter Fazli und Freese sehen, unterbrechen sie ihre Arbeit. Eine dichte Traube bildet sich um die beiden Männer.
Fazli, der Jeans und T-Shirt trägt, sticht unter den traditionell gekleideten Landsleuten heraus. „Das da ist der Ingenieur und Chef des Projekts“, sagt Fazli zu Freese und deutet auf einen Mann, der am Brückengeländer lehnt. „Weiß er, wer wir sind?“, fragt Freese und wartet auf die Übersetzung. „Nein? Gut, dann sag es ihm.“
Aamir Fazli stellt Gerhard Freese als Vertreter der deutschen Entwicklungshilfe vor und sich selbst als seinen Helfer. Die umstehenden Männer verfolgen seine Worte schweigend. Während der Ingenieur ausschweifend darlegt, dass wegen Hochwassergefahr Buhnen zur Eindämmung des Flussbettes erforderlich sein könnten, bahnt sich ein Mann einen Weg durch die Gruppe. Von hinten tritt er an Fazli heran. Ohne ersichtlichen Grund fragt er Fazli erneut nach seinem Namen. Fazli stockt und antwortet dann halblaut.
Paschtunen-Gebiet
Niemand weiß besser als Fazli, dass er und der Deutsche sich hier nur deshalb frei bewegen können, weil die Bundeswehr das Gebiet überwacht. Die Einheimischen in der Provinz Kundus sind vorwiegend Paschtunen, die Volksgruppe, in der die Taliban die größte Unterstützung genießen. Bis vor zwei Jahren nutzten die Taliban die verwinkelten Dörfer, um Kämpfer auszubilden und Sprengfallen zu bauen. Erst eine Offensive der internationalen und afghanischen Truppen stoppte ihren Vormarsch. Viele Taliban-Kämpfer wurden getötet, andere haben sich zurückgezogen oder sind untergetaucht.
Mit Entwicklungsprojekten versucht die Bundesregierung, die Einheimischen für sich einzunehmen. Gerhard Freese hört dem afghanischen Ingenieur zu und verspricht, sich um die Probleme zu kümmern. Während Freese und Fazli zum Jeep zurückgehen, schiebt ein Mann sein Motorrad von der Brücke auf den Weg Richtung Dorf. Sein Gesicht ist von einem rot-weißen Schal verdeckt. Freese und Fazli steigen ein, der Mann setzt sich auf sein Motorrad. Bevor er losfährt, dreht er sich um und blickt Fazli für eine kurze Ewigkeit an.
Während sein Chef über Funk dem Feldlager das nächste Fahrtziel durchgibt, versinkt Fazli in Schweigen. Es sind diese Blicke, die ihm immer wieder klarmachen, dass die Menschen in ihm nicht Fazli, den Helfer, sondern Fazli, den Kollaborateur sehen. Er weiß, dass die Taliban ihn deswegen töten wollen.
Insgesamt 1.700 Afghanen arbeiten für die deutschen Stellen. Als Fahrer, Köche, Übersetzer. Sie alle kennen die Geschichten von Helfern, die von den Taliban getötet wurden. Doch während Länder wie die USA, Kanada und Frankreich Programme mit Schutzvisa für ihre Helfer aufgelegt haben, wird Deutschland die meisten afghanischen Mitarbeiter zurücklassen. Laut Bundesregierung werden sie gebraucht, um das Land aufzubauen. Eine Jobbörse wurde für sie eingerichtet. Nur im Einzelfall, falls ein Helfer eine „konkrete Bedrohung“ nachweisen kann, soll ein Visum erteilt werden.
Aamir Fazli weiß, dass er gefährdet ist. Er ist täglich mit solchen Vorfällen wie an der Brücke konfrontiert. Doch Hinweise auf Blicke und Andeutungen werden vor der deutschen Prüfkommission in Kabul kaum Bestand haben. Der 14-Punkte-Kriterienkatalog ist streng geheim.
Zurück auf der Hauptstraße, setzt sich ein Pkw hinter den Jeep. Begleitschutz. „Falls unser Auto ausfällt oder wir einen Unfall haben, müssen Ausländer sofort die Straße verlassen. Das ist das normale Sicherheitsprozedere“, erklärt Freese. Per Funkgerät bleiben die Autos in Kontakt. „Immer nur die Ausländer. Und was ist mit dem armen Fazli?“, fragt sein Mitarbeiter mit einem Lachen. Auch Freese fällt in das Gelächter ein. Beide lachen ein bisschen zu laut und zu lang.
„Jeder in Kundus kennt mich“, sagt Aamir Fazli. Nach der Invasion 2001 begann der heute 27-Jährige, mit internationalen Organisationen zu arbeiten. Er wollte sein Land wiederaufbauen. „Wir glaubten damals, dass alles besser würde. Dass die internationalen Truppen die Taliban besiegen würden.“ Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem Näher Fazli ein erfahrenes Mitglied der NGO-Welt, das fließend Englisch spricht. Dies öffnete ihm die Türen für die Arbeit mit dem Auswärtigen Amt.
„Hey, wo ist dein Auto?“
„Wer mit internationalen Organisationen arbeitet, landet irgendwann unweigerlich in den Medien. Da steht man dann Schulter an Schulter mit seinem Chef und übersetzt.“ Entwicklungshilfe ist ein wichtiges Thema in Afghanistan. Die Einweihung eines fertigen Projekts wird oft von lokalen Fernsehsendern übertragen. „Deshalb ist meine Arbeit sogar noch gefährlicher als die der Militärübersetzer“, sagt Fazli. „Die Taliban sagen, dass wir dazu beitragen, die gesellschaftlichen Normen und Traditionen zu verändern.“
Ein Bekannter von Fazli befand sich vergangenes Jahr auf dem Heimweg nach Kundus. Wie er arbeitete er mit einer internationalen Entwicklungsorganisation, nur in einer anderen Provinz. Bewaffnete stoppten den Bus, in dem er saß. Zerrten ihn heraus und schossen ihm in den Kopf. Den Leichnam ließen sie liegen. Die übrigen Insassen durften weiterfahren.
Auch Fazli bekam die Bedrohung schon mehrfach am eigenen Leib zu spüren. Einmal blieb sein Wagen auf dem Weg zur Arbeit mit einer Reifenpanne liegen. Während er die Straße herunterging, um einen Ersatzreifen zu besorgen, kamen Nachbarn und Ladenbesitzer auf ihn zu. „Hey, Fazli, wo ist denn dein Auto?“, fragten sie ihn gehässig. „Gehst du heute nicht in dein Büro?“ Fazli weiß, dass viele neidisch auf seinen Job sind. Und er befürchtet, dass sie ihn eines Tages für ein bisschen Geld und Genugtuung an die Taliban verraten werden.
Nicht wirklich reich
Doch es geht nicht nur um Ideologie. Viele haben Angst, dass Afghanistan nach dem Abzug des Großteils der internationalen Truppen Ende 2014 an unzählige kleine Milizen fallen wird. Fazli erinnert sich noch gut an die Tage, als jede kleine Gemeinde in Kundus von einer anderen bewaffneten Gruppe beherrscht wurde. An Checkpoints erpressten sie Geld und Gefälligkeiten. Er weiß, dass er in ihren Augen reich ist. Schließlich hat er für die internationalen Truppen gearbeitet. Seine Familie ist irgendwie Mittelschicht, und irgendwie doch nicht. Fazli verdient 900 Dollar pro Monat. Sein Vater verkauft nebenher ein bisschen Bauholz, sein Bruder starb vor einigen Jahren an Leukämie. Drei seiner Schwestern gehen noch zur Schule, zwei andere leben bei ihren Ehemännern. Wenn Fazlis Gehalt wegfällt, bleibt nicht viel übrig.
Details, um die sich die lokalen Milizen nicht kümmern. „In dem Moment, in dem die Warlords begreifen, dass die ausländischen Truppen weg sind, werden sie uns jagen. Manchen von ihnen geht es nur darum, dass wir Geld haben. Sie sagen: Du hast mit den Ungläubigen gearbeitet, du hast Geld!“
Um sich in Sicherheit zu bringen, würde es schon genügen, in eine andere Provinz zu ziehen. In einer größeren Stadt könnte sich die Familie eine neue Existenz aufbauen. Doch dafür reicht das Geld nicht. Würde die Familie versuchen, ihr Haus zu verkaufen, wüssten alle, warum. Entsprechend niedrig wäre der Preis.
Postkarte vom Reichstag
Am Abend, nach der Arbeit, geht Aamir Fazli die Straße vor seinem Haus entlang. Hohe Mauern begrenzen die Straße. Die Innenhöfe sind nur durch Eisentore zu erreichen. Der Überwachungszeppelin des Bundeswehr-Feldlagers schimmert in einiger Entfernung in der untergehenden Sonne. Kurz bevor Fazli sein Haus erreicht, kommen einige Männer aus der benachbarten Moschee. Sie wechseln noch ein paar Worte und zerstreuen sich dann. „Fazli, wir haben dich lange nicht mehr beim Gebet gesehen“, sagt einer. „Wo bist du gewesen?“ Fazli ist solche Anspielungen gewöhnt. „Arbeit in einer anderen Provinz“, nuschelt er und verschwindet im Tor.
Drinnen im Wohnzimmer sitzt er vor einem dampfenden Silbertablett voller Mantou – afghanischer Maultaschen. „Als wir angefangen haben, mit den internationalen Organisationen zu arbeiten, dachten wir, dass alles gut wird“, sagt Fazli und blickt auf eine Weihnachtskarte, die im Schrank steht. Sie zeigt den Reichstag in stimmungsvoller Beleuchtung. Fazli hat sie als Dank für seine gute Arbeit von einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amts bekommen. „Niemand verlässt sein Land freiwillig. Dein Land ist wie deine Mutter. Doch wenn sie dich bedroht …“, sagt Fazli und stockt. Er hofft immer noch darauf, dass die Deutschen ihn und seine Familie mitnehmen werden.
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl kritisieren die Bundesregierung und verweisen auf ihre Fürsorgepflicht. Die Bundesregierung wolle kein Schutzprogramm, weil es ein Eingeständnis der schlechten Sicherheitslage bedeuten würde. Die Bundesregierung setzt weiter auf Einzelfallprüfung. Bisher wurde in keinem Fall eine „konkrete Bedrohung“ festgestellt und ein Visum erteilt.
*Name geändert
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