: Äußerst hard boiled
■ Jerome Charyns „Paradise Man“
Holden ist ein „Knipser“. Ein Berufskiller, der säumigen Kunden das Lebenslicht ausknipst. Man nennt ihn den Paradise Man, weil er seine Opfer ins Jenseits befördert.
Holden sieht aus wie einer, „der sich zurechtgemacht hat, um Schaden anzurichten“: seine Tausend- Dollar-Anzüge kleiden ihn wie einst Douglas Fairbanks oder den Herzog von Windsor: Sie umschließen ihn — ein aufschlußreicher Hinweis — wie ein „Hautpanzer aus dem Mittelalter“. Er ist ein Killer ohne Seele, und seine kurze Ehe mit Andrushka, der großen Mannequin-Hure, aufgestiegen „aus dem schwarzen Rauch von Wisconsin“, hat eine Faust in seinem Herzen hinterlassen.
Jerome Charyn beschreibt Knipser Holden als mittelalterlichen Ritter, der sich einer verrückten, unmöglichen Liebe verschrieben hat, bevor er ihn auf eine abenteuerliche Reise schickt. Sie führt von der Pelzfirma und Fälscherwerkstatt Aladdin Furs' nach Frankreich, wo Holden geboren wurde, und wieder zurück in den Dschungel von New York, ins Bermuda-Dreieck zwischen Manhattan, der Bronx und Queens. Zu Anfang findet er ein kubanisches Kind, um das exilkubanische und italienische Banden rivalisieren, weil sein Körper als zeitweiliger Sitz afrikanischer Gottheiten verehrt wird. Holden beginnt, Fragen zu stellen, denn erstmals bleibt ihm ein Mord, den er begeht, fragwürdig. Wie ein Parzival aus dem Dickicht der Städte wurde er auf die Reise zum eigenen Ich gezwungen, und er lernt den „Logarhythmus seines Lebens“ kennen: paranoide Schleifen eines Killers — je länger die Fahrt, desto näher das Ziel.
Der Schriftsteller Jerome Charyn wurde in der Bronx geboren, arbeitete in Queens und Brooklyn und lebt heute in Manhattan. Er kennt seine Stadt und ihre Legenden, sein Stadtporträt „Metropolis: New York“, 1988 auf deutsch erschienen, ist eine unerschöpfliche Fundgrube, wie ein Bronxer Grizzlybär schreibt Charyn dort, habe er seine Erinnerungen in seinen Pelz gelagert, seit er ein Kind war. Für „Paradise Man“ macht er aus der Stadt einen Ort, der von Phantomarmeen und fremden Göttern, von Grafen und Königen bevölkert wird. Sie erkennen sich an Henkerszeichen, winzigen Tätowierungen und scheitern an Holdens exquisiter Erscheinung oder auch nicht. Nicht diese bizarre Szenerie, in der sich die Zeiten vermischen, wird Holden jemals in Frage stellen, sondern sich selbst. Denn er könnte, wie er selbst feststellt, ebensogut eine Erfindung sein.
DIe Mittel, die Charyn einsetzt, um sein Geschöpf, den traurigen Prinzen mit dem Kinonamen Holden zu sich selbst finden zu lassen, sind klassisch: Er verliert die Ersatzmutter Loretta, die „sexy Mama“, geliebt von Sohn und Vater; er begegnet neuer Liebe in Gestalt von „Darling Fay“, einer Frau, die verrückt auf sein Schweigen ist, weil sie „mit Männern zusammen war, die die ganze Zeit redeten“. Jede Begegnung verstrickt ihn tiefer in das Rätsel um die eigene Herkunft. Die Sprache Charyns macht diese Suche zur Höllenfahrt — im klapprigen Waggon einer ausgedienten Geisterbahn. Aufs äußerste stilisiert er die lakonische Kunstsprache der Hard- boiled-Novels, mischt respektlos Anklänge an die Sehnsuchtsgesänge mittelalterlicher Ritter bei.
Wer sich auf diese Reise einläßt, wundert sich kaum mehr, daß der Vater gefunden werden muß, der eigene Name und der Mann, der im Hintergrund gottgleich die Fäden zieht. Im Umgang aber mit diesen Grundkonstellationen menschlicher Identitätsfindung mischen sich Kinderglaube und Sarkasmus, Sehnsucht nach den verlorenen Wurzeln und das Wissen um ihre Fragwürdigkeit. Am Ende wird der Killer wissen, daß er vor seiner Begegnung mit der kindlichen Heiligen mit den Leopardenaugen ein Gespenst war. Weil er zum Leben erweckt wurde, wird er um die verlorene Zeit und um die Menschen trauern können. Lore Kleinert
Jerome Charyn: „Paradise Man“. Claassen Verlag 1992, 255 Seiten, 36DM.
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