Ärztliche Behandlungsfehler: Pfusch am Bauch
Die Zahl der Beschwerden über ärztliche Behandlungsfehler steigt. Nur ein Viertel der Fälle landet bei einer Schlichtungsstelle. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher.
BERLIN taz | Immer mehr Menschen in Deutschland beschweren sich über Behandlungsfehler in Krankenhäusern und Arztpraxen. Im vergangenen Jahr haben knapp 11.000 Menschen ihren Fall den Schlichtungsstellen bei den Landesärztekammern vorgelegt. Das sind noch einmal fünf Prozent mehr als 2007. "Jeder Fehler ist einer zu viel, aber sie passieren", sagte Andreas Crusius, Präsident der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern, bei der Präsentation der Zahlen am Donnerstag in Berlin.
Insgesamt beschweren sich laut Bundesärztekammer im Jahr rund 40.000 Menschen über angeblichen Ärztepfusch, davon landet allerdings nur ein Viertel bei den außergerichtlichen Schiedsstellen. Der Rest werde direkt über die Haftpflichtversicherer und Krankenkassen aufgearbeitet - oder landet gleich vor Gericht. Darunter seien vor allem schwere Fälle, etwa wenn bei einer Operation fälschlicherweise das linke anstelle des rechten Beins amputiert oder das Operationsbesteck in der Bauchhöhle vergessen wurde.
Allerdings wurde nur knapp jeder dritte Fall, der im vergangenen Jahr einer der Schlichtungsstellen vorlag, am Ende auch als Behandlungsfehler anerkannt. Da diese Stelle bei den Ärztekammern angesiedelt ist, werfen Patientenorganisationen ihr jedoch immer wieder vor, nicht völlig unabhängig zu sein. Die Ärzteschaft bestreitet dies. Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel (SPD), verlangt, dass an den Schlichtungsverfahren auch Patientenvertreter beteiligt sein sollen. Das sei bisher nicht überall der Fall.
Rund 70 Prozent der beklagten Fehler passieren in Krankenhäusern. An erster Stelle der Fälle, bei denen die Schlichtungsstellen der Ärztekammern einen Behandlungsfehler anerkannt haben, lagen im Jahr 2008 Komplikationen bei künstlichen Hüftgelenken. Bei Operationen sei es beispielsweise mehrfach vorgekommen, dass wegen Fehlern der Ärzte Nerven geschädigt wurden, nach dem Eingriff das eine Bein länger war als das andere oder sich in der Hüfte unbemerkt Eiter bildete, berichtete die Orthopädin Renée Fuhrmann bei der Pressekonferenz der Bundesärztekammer. In den Arztpraxen rangierten im Jahr 2008 die Fälle an der Spitze der Fehlerliste, bei denen eine Brustkrebsdiagnose falsch war.
Die wirkliche Zahl der ärztlichen Behandlungsfehler in Deutschland dürfte allerdings deutlich höher liegen, als von der Bundesärztekammer eingeräumt. Die Dunkelziffer ist enorm.
Berechnungen der EU-Kommission zufolge kommt es bei rund jeder zehnten Behandlung in Krankenhäusern zu Beschwerden, die nicht direkt in Zusammenhang mit der Krankheit stehen. Dazu zählen chirurgische Behandlungsfehler, fehlerhafte Medikation oder eine falsche Diagnose. Allein die Zahl der vermeidbaren Infektionen belaufe sich jährlich auf mehr als vier Millionen Fälle.
Laut dem "Aktionsbündnis Patientensicherheit" werden bei fünf bis zehn Prozent der jährlich etwa 17 Millionen Klinikbehandlungen in Deutschland Patienten Opfer von "unerwünschten Ereignissen". Bei einem Drittel dieser Fälle liegt ein Fehler vor, das entspräche 280.000 bis 560.000 Fällen von Ärztepfusch pro Jahr. Bis zu 17.000 Menschen sterben demnach an den Folgen. Das Ärzte-Bündnis hatte im vergangenen Jahr öffentlichkeitswirksam eigene Behandlungsfehler bekannt gemacht und die Ärzteschaft zu einem offeneren Umgang mit diesem Thema aufgefordert.
Das fordert auch die Patientenbeauftragte der Regierung. "Wir brauchen in allen Krankenhäusern ein verbindliches Fehlermeldesystem", sagte Kühn-Mengel der taz. Dabei müssten auch Beinahe-Fehler miteinbezogen werden - ähnlich wie bei Airlines. Zwar betrieben einige Krankenhäuser ein solches Risikomanagement, bisher aber nur freiwillig. Ein entsprechendes "Patientenrechtegesetz" sei aber erst nach der Bundestagswahl realistisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste