Ärztin über Beratungsstellen: "Abtreibungen sind bewusst"
Die Ärztin Marietta Kiehn hält die Beratungsangebote für Frauen, die ein behindertes Kind erwarten, für ausreichend. Frauen würden ohnehin meist vor der Beratung über eine Abtreibung entscheiden.
taz: Frau Kiehn, die Union sieht Schwangere, die ein behindertes Kind erwarten, schlecht beraten und möchte gesetzlich nachbessern. Sehen Sie diesen Bedarf auch?
MARIETTA KIEHN ist Ärztin für Allgemeinmedizin. Die 59-Jährige ist seit fünfzehn Jahren Beraterin bei der Konstanzer Organisation Pro Familia. Die Stelle ist Teil eines Modellprojekts des Landes Baden-Württemberg zur Beratung rund um die Pränataldiagnostik (www.pnd-beratung.de).
Die fraktionsübergreifende Initiative für eine intensivere Beratung bei Spätabtreibungen hat am Mittwoch ihren Antrag in den Bundestag eingebracht. Zu den Erstunterzeichnern gehört Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) - aber auch die frühere SPD-Familienministerin Renate Schmidt. Laut Antrag soll der Arzt, der während der Schwangerschaft eine Behinderung oder schwere Erkrankung diagnostiziert, künftig zu einer Beratung für die werdende Mutter verpflichtet werden. Anders als heute sollen zwischen der Beratung, die der Arzt dokumentieren muss, und einem Abbruch drei Tage Bedenkzeit stehen. DPA
Marietta Kiehn: Wir sehen keinen solchen Bedarf. Die Ärzte haben jetzt schon die Möglichkeit, Frauen zu Beratungsstellen zu überweisen.
Die CDU sagt: Die Ärzte wissen es, aber sie tun es nicht.
Die Stellen, die eine humangenetische Diagnostik durchführen, beraten die Frauen nach unserer Erfahrung gut. Die niedergelassenen Frauenärzte haben die psychosozialen Beratungsmöglichkeiten noch nicht so entdeckt. Aber um das zu ändern, braucht man weder Dokumentationspflichten noch Bußgelder.
Die Motivation der Union ist, dass von den etwa 3.000 Abtreibungen nach der 12. Woche etliche Fälle durch gute Beratung vermeidbar wären. Ist das Ihrer Erfahrung nach so?
Nach unserer Erfahrung beruhen diese Abtreibungen auf wohlüberlegten Entscheidungen. Es handelt sich ja meist um gewünschte Schwangerschaften. Die Frauen überlegen sehr genau, ob sie das Leben mit einem behinderten Kind tragen können. Sie müssen auch bedenken, dass die CDU vor allem über sogenannte Spätabtreibungen redet. Das sind die Abtreibungen nach der 23. Woche. In diesen Fällen steht eine Abtreibung in der Regel deshalb zur Debatte, weil das Kind nicht lebensfähig wäre. Man entscheidet nur noch über den Zeitpunkt des Todes.
Nach Schätzungen werden aber 90 Prozent der Kinder mit Downsyndrom abgetrieben. Die sind durchaus lebensfähig. Würde eine weitere Beratung an dieser Zahl nichts ändern?
In der Tat haben die Down-Kinder, die heute geboren werden, eher junge Mütter.
Also Mütter, denen keine pränatale Diagnostik empfohlen wurde, weil sie nicht zur Risikogruppe der "Spätgebärenden" gehörten.
Keine Frau weiß, was für ein Kind sie gebären wird. Nur die Frauen, die von der Behinderung wissen, weil sie die Diagnostik in Anspruch genommen haben, könnten sich für eine Schwangerschaft entscheiden. Aber nicht, weil sie schlecht beraten wurden. Sondern, weil sie sich das Leben mit einem behinderten Kind schwer vorstellen können.
Sie meinen, mehr Beratung würde nicht zu anderen Entscheidungen führen?
Wir versuchen gerade in einem Modellprojekt, stärker mit den niedergelassenen Ärzten und den Frühförderstellen für behinderte Kinder zu kooperieren. Wir sagen den Frauen: Schaut euch mal bei den Selbsthilfegruppen und bei den Frühförderstellen um. Aber wir haben bisher nicht erlebt, dass eine Frau daraufhin ihre Meinung geändert hätte. So etwas entscheidet sich viel früher. Manche kommen vor der Diagnostik zu uns und entscheiden dann, dass sie nicht wissen wollen, ob das Kind behindert ist. Die haben sich genau überlegt, dass sie auch mit diesem Kind leben wollen.
Eltern von Down-Kindern berichten, dass sie mittlerweile dafür kritisiert werden, dass sie dieses "teure" Kind bekommen haben. Das macht nicht gerade Mut, oder?
Ja, die gesellschaftliche Stimmung schätze ich auch so ein.
Ärzte sagen, dass sie zu einem Spätabbruch raten, weil mittlerweile an den möglichen Therapien für Behinderten gespart wird. Verstehen Sie das?
Jein. Es stimmt, dass an den Therapien gespart wird. Aber ich meine, dass Ärzte nicht zu- oder abraten sollten. Sie sollten der Frau zu einer eigenen Entscheidung verhelfen. Deshalb sind die psychosozialen Beratungen so wichtig: Da wird eine Frau in Ruhe begleitet. Und nicht nur mit Diagnosen und Prognosen konfrontiert, wie es manchmal beim Arzt passieren kann.
Lebensschützer weisen darauf hin, dass es zur Spätabtreibung die Alternative Adoption gibt. So ist es dem Oldenburger Down-Kind gegangen, das seine Abtreibung überlebt hatte.
Das ist leider ein Einzelfall. Adoptiveltern wissen auch, welche Belastungen ein behindertes Kind mit sich bringt. In der Regel wollen sie ein gesundes Kind adoptieren.
Was wäre Ihr Wunsch an die Politik?
Ich denke, wir brauchen die jetzigen Initiativen nicht. Die niedergelassenen Ärzte könnten häufiger auf eine ausführliche pränataldiagnostische Beratung verweisen, dann wäre im Vorfeld der Diagnostik schon eine Auseinandersetzung mit einer Entscheidung bei positivem Befund leichter möglich. Aber wir halten es für sinnvoller, dies auf einem partnerschaftlichen Weg zu erreichen als mit Zwang.
INTERVIEW:HEIDE OESTREICH
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