piwik no script img

Ärzteflucht und ÄrztemangelDoktor Peters letzter Tag

Seit 20 Jahren ist Doktor Peter Arzt in Wallenfels. Mit 69 Jahren ist er nun zu alt für die Kassenzulassung. Und wer wechselt künftig Herrn Röcherts Bauchkatheter?

Schön wär's: Im ZDF hat der "Landarzt" nicht nur von Montag bis Freitag Sprechstunde, er ist auch jung genug für die Kassenzulassung Bild: dpa

Ärzte und Politik

Die Situation: In Deutschland droht ein Ärztemangel: In den kommenden fünf Jahren werden laut Bundesärztekammer 41.000 Mediziner - darunter vor allem niedergelassene Ärzte - in den Ruhestand gehen. Nachwuchs wird immer knapper. Zu viel Bürokratie und schlechte Honorare schrecken junge Ärzte ab, allein 2006 haben 2.575 Jungmediziner Deutschland verlassen.

Die Rechtslage: Zusätzlich kompliziert wird die Situation durch das Sozialgesetzbuch. Es schreibt fest, dass Ärzte, die das 68. Lebensjahr vollendet haben, ihre Kassenzulassung zurückgeben müssen. Diese Regelung wurde einst eingeführt, damit auch der Nachwuchs an Praxiszulassungen kommt. In strukturschwachen Gegenden führt sie jedoch zur medizinischen Unterversorgung. Vor allem Chroniker und Patienten, die auf Hausbesuche angewiesen sind, stehen quasi ohne Arzt da.

Die Lösung: Nach eindringlichen Protesten der Mediziner will das Bundesgesundheitsministerium zum 1. Januar 2009 diese Altersgrenze wegfallen lassen. Für Dr. Peter käme diese Neuregelung zu spät.

Links und rechts säumen Sägewerke die Ortsstraße von Wallenfels. Holz aus dem Frankenwald wird hier verarbeitet. Dr. Heinrich Peter kennt die Lagerhallen, die Gabelstapler und Maschinenhäuser. Schon einige Male ist er hierher gerufen worden in den letzten zwanzig Jahren. Wenn sich ein Arbeiter mit der Kettensäge verletzt hatte oder in die Kreissäge gekommen war und der nächste Notarztwagen viel zu weit weg - dann eilte er herbei. Seine Praxis liegt ja gleich hinter den Sägewerken, am Fuße des Hügels, der das Rodachtal begrenzt.

Doch seit ein paar Tagen ist es aus mit der Hilfe auf dem kurzen Weg für die 3.000 Menschen des kleinen fränkischen Örtchens. Denn Dr. Heinrich Peter hatte Geburtstag. 69 ist er geworden, und damit hat er die gesetzlich vorgeschriebene Altersgrenze für seine Kassenzulassung überschritten. Einen Nachfolger hat er nicht gefunden, und weil die Kassenärztliche Vereinigung meint, der Landkreis Kronach sei immer noch überversorgt mit Kassenärzten, gibt es auch keine Ausnahmegenehmigung für Dr. Peter und seine Patienten.

Sie alle sind Opfer des siebten Titels des fünften Sozialgesetzbuches, Paragraf 95, Absatz sieben. Dort ist festgeschrieben, dass ein Arzt seine Kassenzulassung zurückgeben muss, der das 68. Lebensjahr vollendet hat. Zwanzig Jahre hat Dr. Peter praktiziert, und nun kann er für gesetzlich Versicherte keine medizinischen Leistungen mehr abrechnen. Nur noch auf eigene Kasse könnten sich die Leute aus Wallenfels und dem umgebenden Frankenwald von ihm behandeln lassen. Aber wer kann das schon? Bis zum Herbst wird er die Praxis noch für Privatpatienten offen halten, dann, wenn sein Azubi die Ausbildung abgeschlossen hat, ist endgültig Schluss. Es gibt noch einen zweiten Arzt im Ort, oben am Hang, zwischen Rathaus und katholischer Kirche. Aber er ist fast ausgelastet, kann nicht alle Leute aus Wallenfels versorgen.

Und dann gibt es ja noch Patienten, die den Weg in eine Arztpraxis oder gar ins "Medizinische Versorgungszentrum" in Kronach niemals schaffen würden. Hubert Stöcher* etwa kann nur liegend transportiert werden. Lastwagenfahrer war er, vor vier Jahren hatte er einen Schlaganfall. Jetzt steht Dr. Peter am Bett des fast komplett gelähmten Mannes, den seine Familie daheim pflegt. Über der Zimmertür hängt ein Kruzifix, die Wände sind orange gestrichen, ein Foto von Papst Benedikt XVI. hängt an der Wand, dazu gemalte Kinderbilder, ganz leise dudelt ein Radio vor sich hin. Peters Arzthelferlehrling und die Pflegerin ziehen Stöchers T-Shirt hoch. Mit gekonnten Handgriffen wechselt Dr. Peter den Katheter, der im Unterleib steckt; nur ein kurzes Röcheln des Patienten ist zu hören. Schnell muss das gehen, meint der Arzt, sonst verschließt sich das Loch in der Blase. Einmal im Monat muss das gemacht werden, sonst drohen Entzündungen. Aber was wird sein in einem Monat, wenn Dr. Peter nicht mehr Hausarzt ist, weil er es nicht mehr sein darf? Frau Stöcher sagt: "Nach Doktor Peter? Ja, das wird schlimm für ihn."

Vergessen fühlen sich die Menschen hier oben in Wallenfels, wo die blaue Schaufensterdekoration des Quelle-Versandshops langsam verblasst und die Schaufenster des Modegeschäfts bunte Kringel und wilde Vierecke präsentieren - Mode aus den Neunzigerjahren. "München leuchtet, bei uns ists finster", sagt Bürgermeister Peter Hänel, dessen Töchter zum Studieren nach Nürnberg und Bamberg gegangen sind. Der größte Arbeitgeber ist inzwischen die Caritas mit neunzig Leuten. Womöglich eine Branche mit Zukunft, aber keine, die dem Ort zu Aufschwung verhilft, das weiß auch der Bürgermeister. Ruhe suchende Leute aus der Großstadt will er jetzt hierher locken in das Tal, das so abgelegen ist. "Wer weiß, obs funktioniert", sagt Hänel und richtet seine Krawatte. Jetzt, wo der Arzt gehen muss, werde es sicher noch schwieriger. "Die Lebensqualität sinkt mit der Praxisschließung natürlich."

Mit seinem Gemeinderat hat sich der Bürgermeister ein halbes Jahr abgemüht, um eine Lösung zu finden für Peters 1.500 Patienten. Hänel zieht einen dicken Leitz-Ordner aus dem Regal: 23 Ärzte stehen auf der oberfränkischen Warteliste der Kassenärztlichen Vereinigung, dieser halbstaatlichen Organisation, die die Zulassungen vergibt. "Alle haben wir angeschrieben", sagt Hänel. "Einer kam aus Interesse." Aber der kaufte schließlich eine Praxis in Bamberg, obwohl die Gemeinde für neue Praxisräume sogar 100.000 Euro in den Haushalt eingestellt hat, quasi als Anschubfinanzierung. "Dann kam noch ein zweiter, aus Düsseldorf. Aber bei dem wars finanziell schwierig." Inzwischen ist auch Hänel mit seinem Latein am Ende. Immerhin, in einer Sache hatte seine vergessene Stadt jüngst Erfolg: "Die Friedhöfe konnten wir renovieren. Dafür gab es Zuschüsse."

Auch Dr. Peter hat eine Liste. 37 Patienten stehen darauf. "Das sind alles Schwerst- und Todkranke." Manche haben Krebs, andere einen großen Dekubitus, alle müssten eigentlich durch Hausbesuche versorgt werden. "Aber ich darf nicht mehr. Und die Kassenärztliche Vereinigung unternimmt nichts zur Lösung des Problems. Das ist eigentlich Krankenversicherungsbetrug, was hier läuft", sagt Dr. Peter. "Die Bevölkerung hat doch ein Menschenrecht auf medizinische Versorgung. Das ist doch auch Deutschland hier!"

Vor zwanzig Jahren ist der Chirurg aus Frankfurt hierher gekommen, eine Schwester von ihm lebte in der Gegend. "Ich hätte in meinem Leben gerne was anderes gemacht", sagt Peter. Eine wichtige Person sei er zwar, so wie der Pfarrer oder der Bürgermeister. Aber dem Akademiker fehlt die Kultur. Alle paar Wochen fährt er in seine Heimatstadt Berlin, um dort die Philharmoniker zu hören, zuletzt Berlioz in der Waldbühne. "Das brauch ich ab und zu", erklärt er, "hier ist schon alles sehr isoliert."

Dr. Peter ist ein planvoller Mensch. Wegen einer noch aus der Kriegskindheit verschleppten Tuberkulose hat er sich damals entschieden, in Wallenfels zu bleiben. Ende der Achtzigerjahre war das. Er investierte einige hunderttausend Mark, um sich in dem Einfamilienhaus in der Schützenstraße 6 eine schöne Praxis zu bauen. In einer Art Wintergarten hat er einen kleinen Operationssaal eingerichtet. Manches ist selbst gebaut, manches ein wenig chaotisch, im Regal steht die Rivanol-Lösung, vor der Glastür eine Gartenschlauchtrommel. Es ist die Praxis eines Einzelkämpfers. Unter dem Glas der Neonröhren haben sich verdorrte Insekten gesammelt, im Arztzimmer türmen sich die Akten, und im Regal stapeln sich technische Geräte von der letzten Computerbastelei. Peter zeigt das alles mit Stolz, erzählt, wie er hier Unfallopfer zusammengeflickt hat, wie er Erstversorgungen übernommen hat, bis der Hubschrauber kam, wie er seinen Patienten die Versorgung in den besten Krankenhäusern der Republik organisiert hat.

So wie für Petra Schreiber. 31 Jahre alt ist die Mutter zweier kleiner Kinder. Gerade ist alles in Ordnung bei ihr, an diesem letzten Tag aber ist sie in die Praxis gekommen, um dem Journalisten zu erzählen vom Dorfarzt, der ihr das Leben gerettet hat. Dr. Peter ist es gewesen, der einen Tumor bei ihr entdeckt hatte. "Ich hatte bereits Metastasen auf der Leber", erzählt sie. "Aber Doktor Peter war für mich da, und jetzt geht es mir wieder gut." In die Charité nach Berlin hat er sie bringen lassen zur Behandlung. Die Nachversorgung mit den 2.000 Euro teuren Injektionen übernahm bisher er. Wie es mit ihr weitergeht nach der Praxisschließung? "Keine Ahnung", sagt Petra Schreiber, "die mit dem Auto erreichbaren Ärzte in der Umgebung sind voll."

Gerade die schwierigen Fälle aus Dr. Peters Karteikasten sind nicht lukrativ. Egal ob Stadt oder Land, ob alt oder jung: Kassenärzte überall in Deutschland müssen inzwischen auf den Cent genau rechnen, um ihre Budgets nicht zu überschreiten. Zu leiden haben die chronisch Kranken, deren Behandlung und vor allem Medikamente oft nur widerwillig von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden. Auch an seinem letzten Tag kämpft Dr. Peter mit solchen Problemen. Mit leicht gekrümmtem Rücken steht der groß gewachsene Arzt an der Empfangstheke und unterschreibt ohne Unterlass Rezepte, die der Drucker eines nach dem anderen ausspuckt. "Ich überschreite hier gerade mein Budget, aber das setze ich mit dem Anwalt durch", sagt Dr. Peter. "Dann haben die Patienten wenigstens noch zwei Wochen ihre Medikamente."

Was ist, wenn die Arzneien verbraucht sind, wenn einer der Waldarbeiter wieder einen Unfall hat? Peter zeigt auf die rote Notarztjacke, die im Flur hängt: "Wir müssen kämpfen!"

Vor dem Landessozialgericht hat sein Rechtsanwalt Klage eingereicht, er fordert eine Ausnahmegenehmigung für seinen Mandaten. Anwalt Brink glaubt an einen Sieg. Aber noch ist kein Beschluss im Briefkasten, noch gilt die Altersgrenze. Und so geht Dr. Peters hinaus, in die Garage, wo sein Audi Kombi steht, um an diesem letzten Tag seine allerletzten offiziell erlaubten Hausbesuche zu machen. Durchs Tal hallt das Kreischen einer Motorsäge.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!