Ärger in der Türkei: Mutmaßliche Putschisten verhaftet

Kritiker sehen Verhaftungen ultranationalistischer mutmaßlicher Putschisten als Versuch, Opposition auszuschalten.

Nach nur einem Jahr weggeputscht: Necmettin Erbakan, der erste Islamist als türkischer Regierungschef. Bild: reuters

ISTANBUL taz Im Zuge der Ermittlungen gegen potenzielle Putschisten, die zu einer nationalistischen Geheimgesellschaft gehören sollen (Codewort Ergenekon), sind in mehreren türkischen Städten erneut 37 Personen verhaftet worden. Diese zehnte Welle, wie türkische Zeitungen die Festnahmen nennen, hat so viel Prominenz erfasst, dass sie das Potenzial hat, dem gesamten Ergenekon-Verfahren eine neue Dimension zu geben.

Derzeit zeichnet sich folgendes Bild ab: Hauptziel der Festnahmen sind hohe Generäle im Ruhestand plus ehemalige Richter, Staatsanwälte und der frühere Präsident des Hochschulrats. Alle zeichnet aus, dass sie an dem Sturz der Regierung von Necmettin Erbakan 1997 beteiligt waren.

Erbakan ist die Gründungsfigur des politischen Islam in der Türkei und schaffte es 1996 in einer Koalition mit Tansu Cillers konservativer Partei des rechten Weges, Ministerpräsident zu werden. Der erste Islamist als Regierungschef konnte sich jedoch nur ein knappes Jahr im Amt halten, weil das Militär über den damaligen Nationalen Sicherheitsrat so viel Druck entfaltete, dass die Koalition platzte und Erbakan zurücktreten musste. Seine Refah-Parti (Wohlfahrtspartei) wurde verboten, er selbst wegen Unterschlagung von Parteivermögen verurteilt, seine politischen Rechte wurden aberkannt.

Man nennt diese Militärintervention den "12.-Februar-Prozess", weil der Nationale Sicherheitsrat Erbakan am 12. Februar 1997 ein Memorandum präsentierte, das ihn zwang, entweder seine Politik zu widerrufen oder zurückzutreten. Der heutige Staatschef Abdullah Gül war damals Minister in der Regierung Erbakan. Premier Tayyip Erdogan war ein prominenter Vertreter der Refah-Partei, der als vormaliger Istanbuler Oberbürgermeister aber bereits wegen "islamistischer Hetzreden" von einem Gericht politisch aus dem Verkehr gezogen worden war.

Die jetzt verhafteten Exgeneräle Tuncer Kilinc, Kemal Yavuz und Erdal Senel waren Schlüsselfiguren im "12.-Februar-Prozess". Außerdem verhaftet wurde Sabih Kanadoglu, der damals als oberster Verfassungsrichter das Verbot der Refah durchsetzte, sowie der damalige Chef des Hochschulrats, Kemal Gürüz, der das Kopftuchverbot an allen Unis durchsetzte. Auch Bedrettin Dalan steht auf der Liste, der vor Erdogan Oberbürgermeister von Istanbul war, sich gestern aber in den USA aufhielt. Insgesamt sind in allen zehn Ergenekon-Ermittlungswellen weit über 100 Leute verhaftet worden. Gegen 84 wird seit November 2008 verhandelt.

Die Anklage verzettelt sich bislang in Einzelvorwürfen, ohne den Zusammenhang eines Putschversuchs herstellen zu können, den die Ergenekon-Bande nach der Wahl der AKP im November 2002 geplant haben soll. Da die AKP als eine der beiden Nachfolgeparteien der damals verbotenen Refah Parti gilt, mutmaßt die Opposition in Ankara, Erdogan und Gül wollten sich mit den jüngsten Festnahmen für den Sturz ihres gemeinsamen Mentors Necmettin Erbakan rächen.

Oppositionsführer Baykal sagte, das Ergenekon-Verfahren hätte den Punkt erreicht, wo es vor allem darum ginge, die Opposition auszuschalten und staatsstreichähnlich die Eliten auszutauschen. Auch neutralere Kommentatoren wie Memet Ali Birand von CNN Türk beklagen, dass Verhaftungen, die einen "politischen Aspekt" hätten, die Öffentlichkeit verunsicherten und dazu führten, dass im Ergenekon-Prozess die "dunklen Ecken der Türkei" nicht aufgehellt würden.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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