Adorno-Vorlesungen in Frankfurt: Die Ungleichheit wächst
Und jährlich grüßen die Adorno-Vorlesungen: Diesmal referierte Michèle Lamont, Soziologin der Harvard University, über Muster der Ausgrenzung.
Zusammen mit dem Suhrkamp Verlag veranstaltet das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) seit 2002 jährlich die Adorno-Vorlesungen. Dieses Jahr übernahm sie die amerikanische Soziologin Michèle Lamont, die an der Harvard University lehrt.
Die Vorlesungen sind nicht gedacht als hermetische Exegese für Adorno-Spezialisten oder von peinlichen Epigonen bestrittene Weihestunden. Adornos Denken soll vielmehr mit aktuellen wissenschaftlichen Ansätzen in Beziehungen gesetzt werden, wie Axel Honneth, Direktor des IfS, betonte. Michèle Lamont knüpft daran an, dass Adorno sich zeitlebens mit empirischer Sozialforschung beschäftigt hat.
In der ersten der drei Vorlesungen beschäftigte sich die Harvard-Professorin mit „Worlds of Morality, Group Boundaries and Societal Success“. Auf der Basis von Interviews aus den USA, Frankreich und Israel versuchte sie herauszufinden, wie sich Ungleichheit in den verschieden politischen Kontexten konstituiert. Pierre Bourdieu, bei dem Lamont in Paris studierte, hob das „symbolische Kapital“ – also kulturelle Fähigkeiten und Praktiken, in seiner Terminologie den „Habitus“ – hervor bei der Abgrenzung sozialer Klassen.
Für Michèle Lamont bestimmt dagegen ein Ensemble von Faktoren den „Mechanismus der Abgrenzung“. Neben der Verfügung über Ressourcen zählen dazu moralische Werte und kulturelle Praktiken. In ihrem Buch „Money, Morals and Manners“ (1992) hat sie die Unterschiede empirisch im Detail nachgewiesen. Anders als in den USA existieren in Frankreich schärfere Grenzziehungen zwischen den sozialen Klassen. Und unter der Herrschaft des Neoliberalismus haben sich in den USA Abgrenzungen durchgesetzt, die man mit den Begriffen Individualisierung und Entsolidarisierung fassen kann – als Folgen von steigender sozialer Unsicherheit durch marktkonforme Privatisierungen.
Affirmative Soziologie
Der „Marktfundamentalismus“ fördert die Stigmatisierung von Armut, aber gemeinsame kulturelle und moralische Werte können auch die Belastbarkeit beziehungsweise Widerstandskraft von benachteiligten Gruppen stärken. Umgekehrt gilt, dass Erfolglose neoliberale Werte in ihre Selbstwahr-nehmung übernehmen und sich als „Loser“ verstehen und verhalten.
Die zweite Vorlesung beruhte auf empirischen Untersuchungen von Lamont zum Innenleben der akademischen Community in den USA. Stipendien-, Forschungs- und Stellenvergabe beruhen in den USA hauptsächlich auf dem Prinzip der „peer review“, das heißt der Überprüfung der Eignung von Kandidaten beziehungsweise Antragsteller durch ausgewiesene Wissenschaftler. Die Auswahl durch solche Expertengremien wird in vielen Teilen der Welt eher skeptisch gesehen, weil die Methode für allerlei Korruption anfällig ist und die Kriterien in vielen Fällen diffus bleiben. Für die Sicherung von Qualität und Chancengleichheit jedoch bürgen allein klar definierte und explizierte Auswahlkriterien.
Soziologische Studien, die nicht nur das Auswahlverfahren analysieren, sondern auch die soziale Herkunft der Kandidaten, legen den Schluss nahe, dass diese Verfahren keine Chancengleichheit garantieren, sondern herkunftsbestimmte Elitenbildung befördern: Söhne und Töchter von Professoren werden leichter Professoren.
In der dritten Vorlesung geht Lamont auf Bevölkerungsgruppen ein, die im Alltag von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen sind. Wie nicht anders zu erwarten, fallen die Reaktionen von Schwarzen beziehungsweise Farbigen darauf in New York, Rio de Janeiro und Tel Aviv unterschiedlich aus. Soziale Klassenzugehörigkeit wird in vielen Fällen von ethnischen, nationalen und religiösen Gruppenzugehörigkeiten überlagert.
Die Vorlesungen boten insgesamt einen aufschlussreichen Einblick in die affirmative Soziologie, wie sie in Harvard gelehrt wird und die sich von gesellschafts- und herrschaftskritischen Ansätzen von Bourdieu und Kritischer Theorie stark unterscheidet.
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