Acrylamid in Lebensmitteln: Risiko noch unklar
Seit fast 15 Jahren wird über die Giftigkeit von Acrylamid diskutiert. Ein neues Gutachten einer EU-Behörde gibt keine Entwarnung.
Vor 15 Jahren hat Acrylamid bereits für Schlagzeilen als „Knuspergift“ gesorgt. „Acrylamide: A cooking carcinogen?“, so betitelten schwedische Forscher der Lidköping University ihre Studie. Zu dunkle Toasts, Pommes und Instantkaffees gerieten damals auf den Index, als die schwedische Lebensmittelbehörde zwei Jahre später den Röststoff in großen Mengen in diesen Lebensmitteln fand und warnte. Seither ist es eher ruhig geworden um die Substanz.
Das mag vor allem daran liegen, dass bis heute nicht ganz klar ist, wie giftig Acrylamid wirklich für den Menschen ist. Im Tierversuch wurde zwar bewiesen, dass es ein Nervengift ist und Krebs in verschiedenen Organen fördert.
Das Problem: Die Tierstudien wurden oft mit 1.000 bis 100.000 Mal höheren Dosen durchgeführt, als Menschen im Schnitt mit ihrem Frühstück samt Kartoffelsnacks zu sich nehmen. Zudem war auch nicht ganz klar, ob der Stoff im Mensch den gleichen Weg nimmt, wie bei Nagern.
Und letztlich konnten auch epidemiologische Studien nicht zeigen, dass ein mehr an Acrylamid in der Nahrung das Krebsrisiko erhöhte – was ein wichtiges Puzzlestück in der Beweiskette wäre. Trotzdem warnt ein neues Gutachten der europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) davor, Acrylamid als harmlos anzusehen. „Der Stoff ist möglicherweise ein Kanzerogen für den Menschen“, so schreiben die EFSA-Forscher, die eher für das Herunterspielen von Risiken bekannt sind.
Das Problem epidemiologischer Studien: Die Acrylamid-Aufnahme wird zumeist durch Ernährungsfragebögen erfasst. Doch der Gehalt in Pommes oder Chips könne je nach Lagerung, Kartoffelsorte und Herstellungsprozess erheblich schwanken. Acrylamid entsteht bei der sogenannten Maillard-Reaktion, wenn Zuckermoleküle und Proteinbausteine, vor allem Asparaginsäure, unter starker Hitze reagieren. Also beim Frittieren, Toasten, Backen oder Braten, warum vor allem Kartoffelchips, Pommes, Backwaren, Kekse, Frühstückszerealien, Brot und lösliches Kaffeepulver Acrylamid liefern.
Im Körper nach drei Stunden verschwunden
Kartoffeln, die im Kühlschrank gelagert werden, haben jedoch mehr freie Zucker und bilden mehr Acrylamid als bei Zimmertemperatur gelagerte Knollen. Solche Feinheiten werden jedoch in großen epidemiologischen Studien nicht abgefragt. Im Körper wird ein Großteil des Acrylamids vom Darm ins Blut geschleust und nach rund 3 Stunden über den Urin entsorgt. Ein Teil wird jedoch in toxisches Glycidamid umgewandelt und nur langsam über zwei Tage ausgeschieden – in dieser Zeit könnte es theoretisch Zellen entarten lassen. Auch über das Rauchen wird viel Acrylamid aufgenommen. So haben Raucher eine 3- bis 5-mal höhere Belastung als Nichtraucher.
In welchen Mengen das giftige Abbauprodukt entsteht, liegt an bestimmten genetischen Besonderheiten in den Entgiftungsprozessen – ist also sehr unterschiedlich von Mensch zu Mensch. Die Glycidamid-Bildung kann damit um den Faktor vier variieren. Der Abbauprozess wird zudem erheblich von anderen Substanzen beeinflusst. So hemmen etwa Sulfide aus Knoblauch oder auch Alkohol die Bildung des schädlichen Abbauproduktes. All das macht eine Abschätzung der Aufnahmemengen und damit eine Risikobewertung praktisch unmöglich.
Nachweis mittels Biomarker
Da Acrylamid sich genauso wie sein Abkömmling an den roten Blutfarbstoff Hämoglobin bindet und sich sogenannte Hb-Addukte bilden, spiegeln Blutproben eine eventuelle Belastung des Einzelnen viel besser wieder als Ernährungsfragebögen. „Ohne solche Biomarker sind epidemiologische Studien nicht aussagekräftig“, meint darum Mandeep Virk-Baker vom National Cancer Institute in einem Review von 2014. Acrylamid-Aufnahmen würden so erheblich unterschätzt.
Bislang wurde nur in zwei der großen Langzeitstudien auch die tatsächliche Belastung im Blut miterfasst. So fand eine dänische Studie aus dem Jahr 2008 einen positiven Zusammenhang zwischen dem höchsten Glycidamid-Level im Blut und Rezeptor-positiven Brustkrebserkrankungen. Eine schwedische Studie aus dem Jahr 2009 fand hingegen kein erhöhtes Risiko, an Prostata zu erkranken, wenn viel Glycidamid im Blut zirkuliert.
Seit Kurzem ist zumindest geklärt, dass der Stoffwechsel von Acrylamid in den verschiedenen Spezies Mensch, Maus, Ratte qualitativ gleich abläuft. Gerne wurde früher kolportiert, Mäuse und Ratten würden nicht wie der Mensch seit Tausenden von Jahren kochen, ihnen fehlten daher möglicherweise entsprechende Entgiftungswege. Carl Winter, Toxikologe an der University of California, hält diese Argumentation für abwegig: „Solche Behauptungen muss man in Vergleichsstudien prüfen, man kann es nicht einfach nur annehmen.“
Grenzwerte überschritten
Eine Risikoabschätzung der WHO im Jahr 2007 ergab, dass das Krebsrisiko bei einer mittleren AA-Aufnahme zwischen 30 bis 180 Krebsfällen pro 100.000 Einwohnern ansteigt und damit wesentlich höher ist als bei Dioxin, Arsen oder Benzol. Trotzdem gibt es keinen Grund zu Panik: „Das Risiko ist einfach nicht bekannt, es ist sicher nicht null, aber doch sehr nahe null“, sagt Winter. Allerdings werden große Mengen des Stoffes konsumiert – in einer US-Studie aus dem Jahr 2012 überschritten 95 Prozent der Vorschulkinder die Acrylamid-Grenzwerte. Darum hält er Minimierungsmaßnahmen für angebracht. Und eben das empfehlen auch die deutschen und europäischen Behörden.
Zwar hat die Industrie ihre Rezepturen so verändert, dass die Werte gesunken sind, allerdings gibt es Produkte, die durchaus noch sehr hohe Werte haben wie (einzelne) Filterkaffees oder Lebkuchen – schließlich ist das Minimierungskonzept nicht bindend. Die Verbraucherorganisation Foodwatch fordert darum, dass die Hersteller den Acrylamid-Gehalt auf der Packung ausweisen sollten. Verbraucher können zudem selbst ihre Aufnahme reduzieren, denn der Anteil an Acrylamid hängt stark vom Bräunungsgrad der Lebensmittel ab. Je dunkler der Toast oder die Pommes, desto mehr Acrylamid enthält es. Daher gilt die Faustregel: „Vergolden statt verkohlen“.
In den USA ist seit Kurzem eine gentechnisch veränderte Kartoffel auf dem Markt, die frittiert 50 bis 75 Prozent weniger Acrylamid liefern soll. Die „Innate potato“ enthält zwar keine artfremden Gene, dafür DNA-Fragmente von wilden Kartoffeln, die an bestimmten Stellen Gene lahmlegen. Doch auch die USA haben die GVO-Skepsis erfasst. Aktivisten haben McDonald‘s bereits dazu gebracht, die Pommes nicht anzubieten. Fraglich ist also, ob diese Knolle ein Verkaufshit werden wird.
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