piwik no script img

Ach, die Schlamperei

■ Anonyme „Messies“ kämpfen gemeinsam gegen die chronische Unordnung im Haushalt

Göttingen. Im Keller des Reihenhauses in Göttingen stapeln sich die Wäscheberge; teils ungewaschen, teils ungebügelt. Weder Socken noch Hosen liegen im Kleiderschrank. Susanne Herms muß sich seit Jahren jeden Morgen ihre Kleidungsstücke aus dem Keller holen. Jeden Morgen Streß durch Unordnung. „Die ordentlichen 'Cleenies' gehen einfach an den Schrank. Wir 'Messies' ersticken im Chaos“, erzählt die 33 Jahre alte Hausfrau.

„Messie“ ist vom englischen Wort „mess“ abgeleitet und heißt soviel wie Unordnung, Durcheinander. „Messies sind Chaoten oder Schlampen“, sagt Herms. „So wie es gute und schlechte Sportler gibt, gibt es auch Menschen, die mit der Haushaltsführung nicht zurechtkommen.“ Seit einigen Wochen leitet die 33jährige die nach eigenen Angaben erste „Messie“-Selbsthilfegruppe Deutschlands. Nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker treffen sich „Messies“ und reden über ihre Probleme. Schätzungen zufolge versinken bundesweit Hunderttausende in der Unordnung; vorwiegend Frauen leiden unter dem Chaos zwischen Küche und Keller.

Ein „Messie“ ist noch lange kein „Messie“, wenn ihm das Ruder einmal aus der Hand läuft. Wenn das Organisationsproblem aber zum chronischen Zustand wird, wächst der Alltagsstreß. Die Hauptprobleme der „Messies“: Sie bewahren zuviel auf, sie lassen zuviel herumliegen und sie haben ein schlechtes Zeitgefühl. Die Gründe dafür können vielfältig sein: Ablenkbarkeit, Vergeßlichkeit, Entscheidungsunsicherheit und – paradoxerweise – Perfektionismus. „Statt Krümel auf dem Boden gleich wegzuwischen, denkt ein 'Messie': Hier müßte wieder gründlich saubergemacht werden. Zum Staubsaugen kommt er aber nicht“, beschreibt Susanne Herms. „Messies“ leiden unter einem „Tunnelblick“, anstatt mit einer „Weitwinkelperspektive“ zu leben. „Nach wissenschafltichen Untersuchungen haben 'Messies' ein 'Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom'“, erzählt die Leiterin der „Anonymen Messies“.

Der erste Schritt zur „Heilung“ ist auch bei den „Anonymen Messies“ die Selbsterkenntnis. Nach einem Zwölf-Punkte-Programm müssen die „Messies“ lernen, sich optisch zu orientieren, zu erkennen, was das Wesentliche ist und daß ein Problem mit wenigen Handgriffen gelöst werden kann. „Irgendwann habe ich mir klargemacht, daß es dieselbe Arbeit ist, wenn man sofort bügelt und die Wäsche nicht erst im Keller liegen läßt“, berichtet Herms aus eigener Erfahrung.

„Viele 'Messies' leben immer noch mit der Hoffnung, daß sich ihre Probleme durch einen Wohnungsbrand oder Umzug im Nichts auflösen. Doch auch in neuen Räumen müllt sich ein 'Messie' sofort wieder zu.“ Es sei denn, er entrümpelt den Haushalt jeden Tag Stück für Stück. Herms: „Das Leben ist ein Marathon, kein Sprint.“

Stefan Radüg/dpa

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen