: Ach, Deutschland!
Michael Kleeberg entwirft in seinem Roman „Ein Garten im Norden“ eine bessere, sogar gute deutsche Geschichte ■ Von Walter Klier
Auf der 508. von 592 Seiten dieses Romans sagt ein vom Autor erfundener Philosoph namens Heidegger: „Die deutsche Literatur leidet unter einer Krankheit, deren Ursache ein trister Komparativ ist. Hierzulande ist die niedrigste Stufe des Ausdrucks das Sprechen, die Verständigung. Sehr viel mehr gilt uns Deutschen das Raunen, aber der Gipfel für die Gralshüter unserer Sprache ist das Stammeln.“ Zwar ist das auf den Expressionismus und die 20er Jahre gemünzt, doch bekanntlich zieht die Misere sich durch die Jahrhunderte, und auch heute wird der Roman, als eine der am höchsten entwickelten Formen der literarischen Verständigung über den gesellschaftlichen Kosmos, in deutschsprachigen Landen großteils aus dem Ausland bezogen. Nicht daß es im Lauf der Zeit an Versuchen gefehlt hätte, den deutschen Roman auf die Höhe des resteuropäischen zu bringen, aber so recht wollte es nie gelingen, und vor allem nicht mehr nach der finsteren Zeit 1933 bis 1945.
Mit seinem erzählerischen Entwurf von nicht geringer Kühnheit, den er ein „Märchen“ nennt, hat der 1959 in Stuttgart geborene und heute im Burgund lebende Michael Kleeberg einen weiteren Versuch unternommen, einen richtigen Roman auf deutsch zu schreiben und nicht nur ein dickes Buch mit dieser Gattungsbezeichnung. Folgerichtig macht er das deutsche Problem zum zentralen Thema. Das deutsche Problem hat mehrere Facetten, historisch, politisch, ästhetisch, und es resultiert in einem Lebensgefühl, das Kleeberg anhand seines Helden wunderbar genau beschreibt. Albert Klein, wie sein Autor, ist ein Deutscher um die vierzig, gebildet, von (meist) angenehmen Umgangsformen, kosmopolitisch, vertraut mit anderen Kulturen und leidend, leidend wie ein Vieh gleichermaßen unter Vergangenheit und Gegenwart seines Vaterlandes.
Nach Jahren im Ausland kehrt er wieder zurück, und es ist ihm dabei gar nicht wohl. „Ich sagte mir nur immer wieder: Du wirst in einem Land leben müssen, wo alle verstehen können, was du sagst, aber du verstehst ihre Wörter nicht mehr: Lebensversicherung, Karriereplan, Bausparvertrag, Emissionsschutz, Anti-AKW-Bewegung, Feuchtbiotop, Shareholder Value, Spontiszene, Freizeitwert. Du wirst im Standort Deutschland hocken, dänische Butter, holländische Tomaten und spanische Erdbeeren essen müssen, die Geschäfte schlagen dir um sechs die Türe vor der Nase zu, die Filme sind alle synchronisiert, und ohnehin gibt es nur amerikanische, alle wollen sich gegenseitig aus dem Land werfen, die Rechten die Linken und umgekehrt, jedes Dorf von 500 Seelen hat seinen Autobahnzubringer, ein Land, so reich, daß es nicht weiß, wohin mit seinem Geld, wäre aber lieber arm und glücklich – ja, Geld war eben kein Kindheitswunsch.“
Aus geschäftlichen Gründen muß der Held zunächst nach Prag, und wie es sich für ein Märchen gehört, besucht er dort nicht nur die Pinchas-Synagoge, wo er in der Liste der ermordeten Juden plötzlich seinen eigenen Namen zu lesen glaubt und eine alte Frau etwas Rätselhaftes und ihm Unverständliches zu ihm sagt, sondern er gerät dann auch noch in ein Antiquariat, wo man schon auf ihn gewartet zu haben scheint. Der Antiquar gibt ihm ein Buch mit leeren Seiten und fordert ihn auf, es vollzuschreiben: „Was immer Sie schreiben, wird, wenn Sie geendet haben, in aller Konsequenz Wirklichkeit geworden sein. Das heißt, Sie werden es in den Geschichtsbüchern nachlesen können, vorausgesetzt, es gehört in die Geschichtsbücher.“
Albert Klein beginnt zu schreiben, und er ersinnt eine große, schöne Geschichte von einem anderen Albert Klein, der Jahrzehnte früher gelebt hat, ein erfolgreicher Bankier mit großen humanistischen Ideen, der nichts Geringeres unternimmt, als dem Gang der deutschen Geschichte nach 1918 eine andere, eine bessere Wendung zu geben. Zentrales Moment in diesem Unternehmen ist eine Art von Zaubergarten, den er mitten in Berlin anlegt und wo er die großen und guten Geister seiner Zeit zusammenführt und auch politische und diplomatische Treffen inszeniert mit dem Ziel, die wankende und kränkelnde Weimarer Republik zu retten.
Zugleich, auf der Ebene der Gegenwart, erlebt oder erleidet Albert Klein seine Wiedereinbürgerung in das Deutschland der mittleren neunziger Jahre, das Wiedersehen mit seiner alten großen Liebe (welche Unvernunft, die wiedersehen zu wollen, deretwegen er einst davongegangen war) wie mit seinen alten Freunden, mit denen er nicht mehr allzuviel zu reden weiß und die ihn nach dem gemeinsamen Abendessen im Restaurant nachhaltig demoralisieren, als sie den Rechnungsbetrag, statt ihn einfach durch sieben zu dividieren, akribisch nach den Anteilen der einzelnen an Speis und Trank aufzuteilen beginnen.
„Ein Garten im Norden“ gehört zu den merkwürdigen Büchern, durch die man sich streckenweise mit letzter Kraft, aus Rezensentenpflicht auch, hindurchkämpft, die aber auf das Ende zu entgegen aller Erwartung allmählich eine Form gewinnen und einen mit jener Rührung zurücklassen, die mit dem ästhetischen Gelingen einhergeht. Im „alten“ Teil seiner historischen Phantasie plagt den Autor (und dann den Leser) eine weltverschlingende Beschreibungswut, ein Erzählwillen, der vor nichts zurückschreckt, nicht einmal davor, Martin Luther auftreten zu lassen oder aus den zwei deutschesten Geistern, Richard Wagner und Martin Heidegger, zwei „andere“ zu machen, zwei demokratische, westliche, humane, etwas, was Michael Kleeberg selber als Ideal für das Hier und Jetzt vorschwebt. Das macht die eigentliche Freude an diesem Buch aus und den Grund, warum man über seinem manchmal allzu gütigen, schier Michael- Ende-haften Humanismus und seinen Historien-Film-Dialogen nicht verzagt. Angesichts des ästhetischen und politischen Fundamentalismus, der zwischen Elfriede Jelinek und Einar Schleef im deutschen Geistesleben west, angesichts der seit Jahrzehnten hochgeehrten Stammel-Literatur eines Peter Handke ist bei allen Einwänden in den Details dieser Roman ein erfreuliches Ereignis.
Michael Kleeberg: „Ein Garten im Norden“. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 1998, 592 Seiten, 48 DM
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