Absurditäten auf dem Klimagipfel: Wenn Männer zu sehr klammern
Wie kann man sich die Klima-Verhandlungen vorstellen? Wie ein Puzzle mit 1.500 Teilen, das 50 Menschen auf ihre eigene Art lösen wollen.
Weil es im Plenum keine Einigung zu den umstrittenen Themen gab, arbeiten Kleingruppen weiter: Zum Beispiel zu Finanzen, Schadensersatz oder Emissionsreduzierung. Die Gruppe sitzt schon seit Stunden zusammen. Fortschritt: Null.
Auf Bildschirmen ist der umstrittene Text zu sehen, die Delegierten gehen ihn Wort für Wort durch. Hat jemand einen Kompromissvorschlag für die Formulierung „Decarbonisation“? Wie wäre es mit „low carbon transformation“? Oder „low emission transformation?“ Oder ganz streichen? Und kann man einen anderen Begriff streichen, weil das gleiche weiter unten auch nochmal steht?
Die Diplomaten beharren auf ihren Formulierungen, geben hier nach, um anderswo mehr zu fordern. Nach Stunden streicht der Vorsitzende die erste eckige Klammer, die anzeigt, wo man sich nicht einig ist.
Der Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren. Die taz berichtete vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.
Zwischen Appell und Erpressung
Diese Szene hat sich so oder ähnlich in allen bisherigen Klimakonferenzen abgespielt, und sie zeigt sich auch in Paris. Die Verhandlungen um den globalen Klimavertrag sind eine Mischung aus Politologie- und Linguistikseminar. Es gilt, eine unübersehbare Menge von Vorschlägen und Ideen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Bei allem politischen Manöver, medialem Druck, wissenschaftlichem Appell und wirtschaftlicher Erpressung im Hintergrund bleibt die Kernaufgabe der Verhandlungen die Arbeit am Text.
Den Gesamttext des „Paris Protokolls“ kann man sich vorstellen wie ein Puzzle mit 1.500 Teilen. Um den Tisch sitzen jede Menge Spieler, die zwei Wochen Zeit haben. Jeder umklammert eine Handvoll Puzzleteile, die ihm besonders am Herzen liegen. Das Bild, das die Spieler legen sollen, hat aber nur Platz für 150 Teile. Und die Regeln besagen: Das Bild gelingt nur dann, wenn alle Spieler einverstanden mit dem Ergebnis sind.
Die Sache mit der eckigen Klammer
Unmöglich? Jedenfalls eine Sysiphos-Aufgabe: Der Vertragsentwurf, das draft agreement and draft decision on workstream 1 and 2 of the Ad Hoc Working Group on the Durban Platform for Enhanced Action ist auf 54 Seiten aufgeblasen worden.
Eng bedruckt liegt es vor den Delegierten - in der Mehrzahl Männer – aus 195 Staaten, und soll regeln, wie der weltweite Klimaschutz ab 2020 aussieht. Das Problem: Wenn sich die Staaten nicht einigen können, [setzen sie den Text in eckige Klammern]. Davon gibt es jetzt noch etwa 1.500 im Text. Und nur [ohne Klammern] gibt es einen Text, den alle akzeptieren. Verhandeln heißt wie im Mathe-Unterricht: Klammern auflösen!
Dieses Slow-Motion-Puzzle hat viele Probleme. „Wir haben in diesem Jahr noch gar nicht verhandelt“, sagt eine erfahrene Delegierte. Der Text für Paris stammt von der letzten Klimakonferenz in Lima, dort hatte er 38 Seiten. Dann wuchs er auf 80, es gab einen neuen Text mit 20 Seiten, der erst auf 34 und jetzt auf 54 angeschwollen ist. Statt Puzzleteile auszusortieren, warfen die Spieler immer neue Teile auf den Tisch. Die müssen jetzt mühsam miteinander verzahnt werden oder eben ganz verschwinden.
Eifersucht und Bremser
Nächstes Problem: Es fehlt eine starke Hand. Alle „distinguished delegates“ achten eifersüchtig darauf, dass die Verhandlungen ein „party driven process“ sind, dass also die Länder den Kurs bestimmen und nicht die Konferenzleitung. Und weil alles einstimmig entschieden wird, haben die Bremser oft leichtes Spiel. Hinter höflichen Diplomatenformeln wie „Sudan, you have the floor“ – „thank you, chair“ verbergen sich oft jahrelange Frustration und gemeinsame Erfahrungen von Verhandlern, die sich gut kennen und wissen, wo die Schmerzgrenzen des anderen liegen.
Die entscheidenden Gespräche führen die Delegierten deshalb auch auf den Fluren der Konferenzsäle oder bei vertraulichen Abendessen. Und oft hilft es erst, wenn die Minister erscheinen. Die können mehr entscheiden und, so ein Delegierter, „die haben weniger Ahnung, das hilft manchmal.“ Trotzdem kommt es zu absurden Momenten: Etwa, wenn ein Komma im Text eingeklammert wird.
Wenn die Untergruppen die Klammern nicht auflösen, geht der Text zurück ans Plenum. Dann kommt er eventuell mit einer Ermahnung wieder zurück in die Untergruppe, die bis zur Erschöpfung verhandelt. Es gab schon Runden, die ohne Stühle auskommen mussten – das beschleunigt den Abschluss. Und wenn es ernst wird, treten die „genialen Drafter“ auf den Plan: Juristen, die für besonders heikle Fragen schon vorher Kompromissformeln schmieden, die sie im entscheidenden Moment in die Verhandlung geben – die allerdings oft ein Minimalkompromiss oder schlicht unverständlich sind.
Legendäre Kompromisse
Jede größere Delegation bringt ein solches Genie mit, das streng gesichert in seinem Laptop mögliche Kompromisse mit sich herumträgt. Legendär ist die Formulierung, die 2011 in Durban im Morgengrauen des letzten Tages die Inder überzeugte: Weil sie sich gegen den juristisch substanziellen Begriff „Protokoll“ sträubten, fand die brasilianische Delegation die Formulierung „ein abgestimmtes Ergebnis mit juristischer Kraft“ – selbst die EU-Klimakommissarin Connie Hedegaard gab hinterher zu, sie wisse auch nicht genau, was das heißen solle.
Für Paris haben die genialen Puzzleteile-Finder bereits vor einem Jahr bei der Konferenz in Lima vorgesorgt. Ganz zum Schluss brachten die Chinesen einen Passus ein, der in Absprache mit den USA die hart umkämpfte Frage entschärfte, welche Staaten wieviel Klimaschutz leisten müssen. Das soll nach „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeiten und Möglichkeiten passieren“, und zwar „im Licht der verschiedenen nationalen Umstände“ – ein Joker, der überall hinpasst, weil er den Staaten offen hält, ihre Umstände selbst zu definieren.
Ein solche[s][r] [Abkommen] [Vertrag] [Text mit [eingeschränkter] rechtlicher Relevanz] [ist] [wäre] [dürfte] [kaum] [selten] [praktisch nie[ [immer] zu [verstehen] [nachvollziehen] [der Öffentlichkeit zu vermitteln] sein. Das [aber] [jedoch] [jedenfalls] ist [zweitrangig] [von größter Wichtigkeit] und [aber] [deshalb] [das Kernproblem] [die [große] Chance] für [den Erfolg] [das Scheitern] des [Klimagipfels] [Umweltgipfels] [Entwicklungsgipfels].
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“