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Abschlussbericht zum Fall KentlerDas Missbrauchs-Netzwerk

Nina Apin
Kommentar von Nina Apin

Dass sich das Land Berlin sieben Jahre nach den ersten Medienberichten über misshandelte Pflegekinder seiner Verantwortung stellt, ist überfällig.

Bedrohlicher Zugriff Foto: picture alliance/Patrick Pleul/dpa

N icht nur von den Medien wurde die sogenannte Kentler-Studie mit Spannung erwartet: Als das ForscherInnenteam der Uni Hildesheim am Montag seine Erkenntnisse über den krassen Fall von Behördenversagen präsentierte, der dazu führte, dass Kinder und Jugendliche jahrzehntelang bei vorbestraften pädosexuellen Pflegevätern untergebracht wurden, war auch einer der Betroffenen anwesend. Für ihn kamen die Worte der Entschuldigung von Bildungssenatorin Scheeres reichlich spät. Scheeres bat die ehemaligen Pflegekinder um Verzeihung für das Versagen der staatlichen Jugendhilfe und versprach ihnen finanzielle Entschädigung – trotz der strafrechtlichen Verjährung der Taten.

Dass sich das Land Berlin sieben Jahre nach den ersten Medienberichten über misshandelte und missbrauchte Pflegekinder endlich seiner Verantwortung stellt, ist überfällig.

Weiterhin steht der Verdacht im Raum, dass der Senat ein doppeltes Spiel spielt

Doch es steht weiterhin der Verdacht im Raum, dass der Senat hier ein doppeltes Spiel spielt: Schließlich hat der Finanzsenat erst Ende März in einer Klageerwiderung „jegliches Verschulden einer angeblichen Amtspflichtverletzung“ bestritten.

Dabei betonten die AutorInnen der von Scheeres beauftragten Studie, dass es sich hier um Kindeswohlgefährdung in staatlicher Verantwortung handelte. Die ForscherInnen deckten durch akribische Aktenarbeit und Zeitzeugenbefragung ein Netzwerk auf, das offenbar bundesweit agierte. Nicht nur der einflussreiche Pädagoge Helmut Kentler richtete dubiose „Pflegestellen“ ein, in denen er Kinder Pädosexuellen zuführte. Gesinnungsgenossen im Westberliner Jugendamt vermittelten auch Kinder an die hessische Odenwaldschule, wo der pädosexuelle Gerold Becker wirkte. Und es meldete sich ein dritter Betroffener, der angab, als Jugendlicher Anfang der 1980er Jahre in einer Pflegestelle in Westdeutschland untergebracht worden zu sein, die von einem Berliner Bezirks­amt geführt wurde.

Der Pflegevater, ein Professor der Sozialpädagogik, war ebenfalls übergriffig – und das verantwortiche Bezirksamt taub für alle Beschwerden. Auch zum Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gab es wohl einschlägige Querverbindungen.

Die Senatsverwaltung für Jugend war also, so drastisch muss man es sagen, das Zentrum eines bundesweit agierenden Missbrauchs-Netzwerks. Und zwar mindestens bis 2003. Wenn Scheeres es ernst meint mit der Aufarbeitung, dann muss sie jetzt erst richtig loslegen. Und zwar im Keller ihres Hauses. Dort lagern Tausende noch unerschlossene Pflegekinderakten. Vielleicht auch die Beiakte des in Obhut des „Pflegevaters“ Fritz H. verstorbenen mehrfachbehinderten Jungen, dessen Tod bis heute ungeklärt ist.

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Nina Apin
Kultur/Politisches Buch
Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag. Seit Dezember 2024 ist sie Redakteurin im Kulturressort und betreut zusammen mit Ulrich Gutmair das Politische Buch.
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2 Kommentare

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  • Angesichts der monströsen Vorgänge um das kriminelle Netzwerk Kentler sollte man wirklich das Verjährungsprinzip hinterfragen, das in diesem Fall mal wieder den Tätern in die Hände spielt. Außerdem müsste der Entschädigungsfond wirklich sehr hoch sein.



    Leider wird er aber niemals die psychischen Leiden der Opfer, potenziert durch die jahrzehntelange Blockade der Nachforschungen, "entschädigen" können.



    Man erlebt außerdem mit Schrecken, dass Bewhörden nach dem selben Muster Aufklärung verschleppen und erschweren wie die Kirchen.

  • 9G
    97287 (Profil gelöscht)

    Es war nicht der Senat der fehlte sondern die Bezirksämter, und in denen saß die Grün/ Alternative Liste.