: Abschied vom alten Fuhrmann
■ K O M M E N T A R
Viele werden aufatmen, daß Herbert Wehner, der sich einen „alten Fuhrmann“ nannte, endlich unter den Rasen kommt. Zu lange hat er mitgemischt, zuviel gewußt, zu vielen ein Bein gestellt. Jetzt geben sie ihm drei Hände Erde. Mancher Bonner Politiker streut auch noch ein paar Lügen hinterher. Nichts leichter als das. Der Mann ist tot, er kann sich endlich nicht mehr wehren, keinem anderen Mann mehr Angst machen. Das war seine Spezialität.
Gleichgültig, auf welcher Seite er gerade kämpfte, Wehner tat es immer mit vollem Einsatz und furchteinflößender Kraft. Kaum einem fiel es auf, wenn er einen Graben räumte, stand er doch umgehend auf dem nächsten Feldherrnhügel. Er ließ die schöne Idee von der anarchistischen Freiheit schon als Jüngling hinter sich. Daß sich die Proletarier aller Länder vereinigen und ihre Ketten brüderlich abschütteln würden, hat er wohl seit sechs Jahrzehnten für einen Schwindel gehalten. Gleichheit war dem Herbert Wehner ohnehin nie ein Ideal - er hat geführt, die anderen sind ihm gefolgt. Mit dieser merkwürdigen Mischung aus Charisma und Kaderpolitik hat Wehner sich im Zentrum der Macht gehalten.
Kein Zweifel: zu seinem eigenen Wohl. Hat er auch Deutschland gutgetan? Oder wenigstens der Deutschen Bundesrepublik? Oder hat er, als ethische Minimalforderung, den unteren Sozialschichten geholfen, denen er entstammte? Die Bilanz liegt noch nicht offen zutage. Wehners Soll und Haben wird man wohl erst verläßlich abwägen können, wenn die Geschichte ein paar Jahrzehnte weiter ist (und in Moskau die Archive offen). Wehner hat die Weimarer Republik zerstören helfen, mit guten Gründen und bösen Folgen. Er hat tapfer gegen die Nationalsozialisten gearbeitet, seinen eigenen Kopf aber nicht auf den Richtblock legen wollen, verständlicherweise. Als der Zweite Deutsche Weltkrieg verloren war, hat er mit dafür gesorgt, daß die polnischen Grenzen bis an Oder und Neiße vorgeschoben und Restdeutschland erstmal geteilt wurde. Den außenpolitischen Interessen der großen Sowjetunion, der er 15 Jahre treu gedient, hat er also nie geschadet. Gut so? Eine Friedenstat? Oder Hochverrat?
Über Tote nur die Wahrheit, na klar. Leider kennt sie keiner. Niemand weiß, wohin die lange Reise des alten Fuhrmanns eigentlich gehen sollte. Vielleicht saß er nur gern auf dem Kutschbock und hielt die Zügel in der Hand, 60 Jahre lang. Das ist nun vorbei. Was die Parteien geben, nimmt das Grab.
Hans Halter
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