: Abruptes Ende der wilden Jagd
Nach Miguel Induráins Aufgabe ist der Weg bei der Spanien-Rundfahrt frei für den Schweizer Alex Zülle und die Zukunft des Spaniers weiter unklar ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Die Zeiten, als die Rundfahrt durch das eigene Land für Spaniens Radsportfans das größte Ereignis des Jahres war, sind längst vorbei. Zunächst Pedro Delgado und dann natürlich Miguel Induráin haben dafür gesorgt, daß auch auf der iberischen Halbinsel die Tour de France zum absoluten Saisonhöhepunkt geworden ist. So plötzlich wie in diesem Jahr haben die Spanier allerdings noch nie das Interesse an ihrer Vuelta verloren. Voller Vertrauen auf die Stärke ihres großen Miguel, hatten sie in der letzten Woche der Rundfahrt eine wilde Jagd unter dem Motto „Induráin hetzt das ONCE- Team“ erwartet, doch dann schaffte es der fünffache Tour-Sieger auf der Königsetappe am Freitag gerade bis zu seinem Hotel im asturischen Cangas de Onis, wo er entkräftet vom Rad stieg.
Damit war die Vuelta 96 unversehens entschieden. Die Spitzenplätze belegen Alex Zülle und Laurent Jalabert aus der perfekt harmonierenden ONCE-Mannschaft, der drittplazierte Laurent Dufaux liegt mehr als fünf Minuten zurück. Wenn nicht gravierende Dinge geschehen, wird Zülle endlich, mit 28 Jahren, seine erste große Rundfahrt gewinnen. Sollte dem wegen seiner Sehschwäche sehr sturzanfälligen Schweizer noch ein Mißgeschick zustoßen, steht der französische Vorjahressieger Jalabert bereit.
Beide befinden sich in vorzüglicher Form, wie sie auf jener für Induráin verhängnisvollen 13. Etappe bewiesen, als sie beim steilen Anstieg zu den Lagos de Covadonga die Konkurrenz förmlich stehenließen und gemeinsam das Ziel erreichten, wo Zülle das Angebot seines Teamkollegen, Hand in Hand über die Linie zu rollen, ablehnte und Jalabert die Ehre des Etappensieges überließ. Seinen Rückstand von über einer Minute wird der Franzose auch beim Zeitfahren der vorletzten Etappe am Samstag in Segovia nicht aufholen können, außerdem beteuert er, daß er keine Ambitionen hat, Zülle den Gesamterfolg noch streitig zu machen: „Er war Zweiter bei der Tour, bei einer anderen Vuelta und in der Tour de Suisse. Es wäre zuviel für ihn, wenn er jetzt nicht gewinnen würde.“
Der einzige Fahrer, der die beiden Spitzenreiter hätte gefährden können, ist Tony Rominger. Doch eine kleine Unachtsamkeit auf der dritten Etappe, als er den Anschluß an eine fünfzigköpfige Ausreißergruppe verpaßte und acht Minuten verlor, hatte dem Schweizer schon früh die Tour vermasselt. Die Hoffnung auf Rang drei bei der Vuelta und einen WM-Sieg in Lugano ist alles, was Rominger in dieser Saison noch bleibt.
Weit mehr als der Ausgang der Rundfahrt interessiert natürlich nicht nur in Spanien die Zukunft von Miguel Induráin. Es hatte nicht des diesjährigen Debakels bedurft, um zu beweisen, daß die Vuelta seine Sache nicht ist. Achtmal nahm er teil, viermal stieg er aus, bei seinem Debüt 1985 fast an derselben Stelle wie elf Jahre später. 1990 war der aufstrebende Radler aus Navarra vom Banesto- Team dazu ausersehen, bei der Vuelta seinen ersten großen Sieg zu landen. Edelster Unterstützer des damals 25jährigen war, zum Dank für die bei der Tour de France geleisteten Dienste, kein Geringerer als Teamkapitän Pedro Delgado. Doch Induráin konnte die Erwartungen nicht erfüllen, verlor beim entscheidenden Zeitfahren unter anderem gegen Uwe Ampler und landete am Ende auf Rang sieben. Ein Jahr später reichte es für Induráin immerhin zu Rang zwei hinter Melchor Mauri, damit war die Vuelta für ihn erledigt. Fortan konzentrierte er sich auf die Tour.
Nachdem es ihm 1996 nicht gelungen war, diese zum sechsten Mal in Folge zu gewinnen, mußte Induráin lernen, wie schnell gefallene Könige ihrer Privilegien verlustig gehen. Die Banesto-Direktoren bestanden darauf, daß er in Spanien fährt, obwohl sein persönlicher Arzt Sabino Padilla erklärte, daß der 32jährige weder in der geeigneten Verfassung für die Vuelta noch für die WM sei. Miguel Induráin ist ausgelaugt, ein kleiner Husten in den asturischen Bergen genügte, seinen Sauerstoffhaushalt durcheinanderzuwirbeln. „Meine Beine fühlen sich an wie Bretter“, sagte er bei seinem Ausstieg.
Zu seiner Zukunft mochte sich Induráin, bevor er sich zwecks Erholung nach Benidorm zurückzog, nicht äußern. In knapp zwei Monaten wird er um die Antwort nicht herumkommen. Am 1. Dezember endet sein Urlaub und die Vorbereitung auf die nächste Tour de France sollte beginnen. Dann entscheidet sich, ob einer der größten Radfahrer aller Zeiten tatsächlich den kläglichen Abgang von Cangas de Onis als Schlußpunkt seiner Karriere stehenlassen will. Zuzutrauen wäre es ihm, denn Induráin sieht die Dinge meist eine Nummer kleiner als andere Leute. „Es ist doch nur ein Sport“, tröstete er seine verzweifelte Crew nach der Aufgabe in Asturien.
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