Abrüstung durch Umrüsten

■ Der Warschauer Pakt ist auf dem Weg zu einer defensiven Verteidigung

In der Sowjetunion korrespondiert seit gut drei Jahren der eingeleiteten innenpolitischen „Perestroika“ auch ein außen und sicherheitspolitischer Umorientierungsprozeß. Vorläufiger Höhepunkt des „neuen Denkens und Handelns“ auf militärischem Gebiet ist zweifellos die Rede Gorbatschows vor der 43.Uno-Vollversammlung in New York am 7.Dezember 1988. Die dort angekündigteneinseitigen Abrüstungsschritte sind das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der in der westlichen sicherheitspolitischen Öffentlichkeit in seiner ganzen Tragweite bis heute nicht recht begriffen worden ist.

Bereits im Budapester Appell des politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrags vom 11.Juni 1986 war als wesentliches Ziel die Verringerung der „Gefahr eines Überraschungsangriffs“ vorgegeben, sowie die Festigung von mehr Stablität in Mitteleuropa.

Auf der Jahrestagung am 29.Mai 1987 in Ost-Berlin wurde ein Dokument über die Militärdoktrin vorgestellt. Haupttenor: Die Militärdoktrin der WVO hat einen strikt defensiven Charakter. Die Maßnahmen zur Verteidigung orientieren sich am Prinzip einer „vernünftigen Hinlänglichkeit“. Angestrebt wird eine „Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf einem Niveau, auf dem jede Seite, bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung, über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt“.

Auch in dem Drei-Stufen-Plan Gorbatschows, den der sowjetische Generalsekträr am 1.Juli 1988 vor dem polnischen Parlament erläuterte, war für die letzte Stufe vorgesehen, die Streitkräfte- und Militärorganisationen durch weitere Abrüstungs- und Umrüstungsschritte so zu verändern, bis sie einen eindeutig defensiven Charakter aufweisen. Einige Tage später wurde dieser Plan der Nato als kollektives Angebot der WVO-Staaten für Verhandlungen angeboten.

Die begrifflichen Übereinstimmungen zu westlichen Konzepten einer „defensiven Verteidigung“ im Sinne „struktureller Angriffsunfähigkeit“ waren unverkennbar. Die Gorbatschow -Initiative vom Dezember 1988 wiederum bestach durch ihre neue Qualität: Mit der Ankündigung einseitiger Abrüstungsschritte brach Gorbatschow mit einem Tabu: dem Prinzip der Gegenseitigkeit, wonach Abrüstung nur auf dem Verhandlungswege möglich und sinnvoll sei.

Die eigentliche Pointe an der Uno-Initiative ist: Was jetzt „einseitig“ an militärischem Potential abgebaut werden soll, wird im Zuge der Umstrukturierung auf konsequente Defensivität von der Sache her entbehrlich. Was heißt das?

Die Ankündigung Gorbatschows, unter anderem sechs Panzerdivisionen aus drei WVO-Staaten mit einer Größenordnung von 50.000 Soldaten und 5.000 Kampfpanzern abzuziehen und aufzulösen, hat manchen Kommentatoren einiges Kopfzerbrechen bereitet. Denn rein rechnerisch würden nach den genannten Zahlen 20.000 Soldaten zu wenig und 2.500 Kampfpanzer zuviel abgebaut werden, da sechs Panzerdivisionen, einschließlich der ebenfalls aufzulösenden Panzerausbildungsregimenter sowie der Luftsturmbrigaden und Pionierverbände, eine Personalstärke von etwa 70.000 Soldaten und maximal 2.500 Kampfpanzer umfassen. Die Lösung des Rätsels liegt in dem eingeleiteten Strukturwandel im Sinne einer Spezialisierung auf die Defensive.

Eine Analyse der Studiengruppe Alternative Sicherheitspolitik (SAS) kommt zu folgendem Ergebnis: In den drei genannten WVO-Staaten wird es künftig nur noch neun statt bisher 15 Panzer- und weiterhin 13 Infanteriedivisionen geben. Dies ist die erste Strukturverschiebung. Es bleiben weniger, besonders zum Angriff geeignete Großverbände übrig. Zusätzlich werden die verbleibenden Divisionen noch umgegliedert: Weg von der Panzerlastigkeit, dafür Stärkung der infanteristischen Elemente wie auch der Pioniere, die auf das Sperren und die defensive Ausnutzung des Geländes spezialisiert sind.

So werden dann die genannten Zahlen verständlich: Man kann nicht ganz so viele Soldaten nach Hause schicken, wie vorschnell errechnet, aber dafür die doppelte Menge schweren Materials abziehen und zerstören oder umrüsten.

Nach Gorbatschows Initiative wurde keinen Monat später aus Polen die vollständige einseitige Auflösung zweier Divisionen angekündigt.

Fast dramatisch zu nennende einseitige Abrüstungsschritte kündigte am 23.Januar 1989 dann der SED-Generalsekretär Erich Honecker an. Dies ist um so erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß die DDR sich über viele Jahre am vehementesten gegen einseitige Maßnahmen ausgesprochen hatte und fast ausschließlich auf den Verhandlungsweg setzte.

Die Reduzierung des Potentials der Nationalen Volksarmee um 10.000 Soldaten, sechs Regimenter mit 600 Panzern und einem Geschwader von 50 Kampfflugzeugen ist der materialisierte Beweis für die neue ausschließlich defensiv orientierte Militärdoktrin. Diese soll in allernächster Zeit auch veröffentlicht werden. Während eines Gesprächs von SAS mit Mitgliedern des Institutes für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) Ende Mai in Ost-Berlin, ist diese militärische Neuorientierung bestätigt und erläutert worden: So soll etwa die Möglichkeit zu operativen Angriffsoptionen der Land- und Luftstreitkräfte vollständig beseitigt werden. Es wurde auch darauf aufmerksam gemacht, daß an den Militärakademien die neue Verteidigungsdoktrin bereits gelehrt wird.

Nach allem was wir wissen, ist der eigentliche Strukturwandel in den östlichen militärischen und politischen Eliten dennoch nicht unumstritten. Um so deutlicher müßte von westlicher Seite diese riesige Reformchance im sicherheitspolitischen Bereich unterstützt und getragen werden. Man könnte beispielsweise sofort mit einseitigen (besser: selbständigen) Maßnahmen im Bereich der taktischen Luftstreitkräfte beginnen, wo die Nato eindeutig überlegen ist. Diese selbständigen Maßnahmen würden Verhandlungen in Wien und anderswo nicht überflüssig machen. Sie könnten dies aber beflügeln. Michael Roick, Studiengrupp

Alternative Sicherheitspolitik (SAS