: Abi mit dem Klappmesser
■ Im Concordia-Theater zeigt die Schülergang der „Lieben Jelena Sergejewna“, wo es lang geht
Es ist der Traum jedes Schülers, an die Fragen für die Klassenarbeiten im voraus ran zu kommen. Aber wie weit würde man gehen?
Autorin Ljudmila Rasumowskaja wollte nie Lehrerin werden. Stattdessen begann sie schon als Schülerin mit dreizehn zu schreiben. Aber erst ihr sechstes Stück über die Lehrerin „Liebe Jelena Sergejewna“ schaffte den Weg zur Bühne. Und traf so auf den Nerv, daß es in der Sowjetunion 1980 gleich wieder verboten wurde.
Heute zählt „Liebe Jelena Sergejewna“ in aller Welt zu den meist gespielten Gegenwartsstücken. Und das liegt vielleicht weniger an der prophetischen Qualität des vor fünfzehn Jahren geschriebenen Stücks als daran, daß es universal ist. Das Stück spielt in dem Mikrokosmos Schule, hier begrenzt auf vier Schüler und eine Lehrerin. Wir befinden uns in der Sowjetunion, aber die Handlung könnte ebensogut auch in einer Bremer Gesamtschule oder einer Highschool in Los Angeles stattfinden.
Zu Beginn ist die Lehrerin Jelena Sergejewna allein in ihrer Wohnung. Es klingelt: Vier ihrer Schüler stehen vor der Tür, wollen ihr zum Geburtstag gratulieren. Während die Mathematiklehrerin noch leicht verwirrt nach einer Vase sucht, machen die Schüler dem Publikum die Gründe für ihre plötzliche Sympathiebekundung durchsichtig. Die Abi-Arbeit in Mathe ist für alle schlecht gelaufen. Man braucht den guten Notendurchschnitt für die Zulassung zur Uni. Die Schüler sind verzweifelt, Jelena Sergejewna aber verwahrt den Schlüssel zu dem Tresor, in dem die Arbeiten lagern. Rückt sie ihn raus? Bestechung ist das mindeste, Erpressung und alles darüber hinaus denkbar. Als Jelena mit einem Imbiß aus der Küche zurückkommt, steht die Forderung nach dem Tresorschlüssel wie ein Klappmesser im Raum.
Die Bremer Inszenierung von Peter Wittenberg macht aus dem fast simpel gestrickten Moral-Konflikt zwischen Gut und Böse, ein Psychodrama, in dem die Schülergruppe um die Lehrerin (Margit Rogall) ein demagogisches Sperrfeuer eröffnet, das die Zuschauer den ganzen Abend in Spannung hält. Eine offene Bühne, auf der durch Lichtwechsel die unterschiedlichen Spielorte nur angedeutet werden, schafft die nötige Atmosphäre
. Auch die gruppenspezifischen Jugendklamotten, der orangefarbene Minirock für Ljalja (Silke Haupt), die schwarze Lederjacke für ihren Freund Pascha (Sven Lehmann), die Adidas Sportjacke für Vitja (Heiko Senst) und das unvorteilhaft billige Jackett, mit dem der Möchte-gern-Diplomat Volodja (Pierre Besson) verunstaltet ist, zaubern den unwiderstehlichen Charme des Ostblocks herbei. Die Regie setzt ganz auf die perfide Dynamik des Terrors und den Voyeurismus des Zuschauers, der schon ahnt, was mit dem Opfer passiert, und die Faszination der Gewalt.
Die treibende Kraft in der Schülergruppe ist Volodja, einer, der Spaß an der Demagogie hat, aber selbst gar keine besseren Noten braucht. Pierre Besson, gerade von der Schauspielschule gekommen, gibt der Figur eine furchterregende Entschlossenheit und Flexibilität. „Ich stame aus einer angesehenen Intellektuellen-Familie, gebe Anlaß zu großen Hoffnungen.“ Weder an Selbstbewußtsein mangelt es ihm noch an rethorischem Geschick. Er zieht alle Register. Analysiert: Jelena ist Idealistin – „Das sind die Schlimmsten“ – und beendet morgens um vier die fruchtlosen Verhandlungen. Moralisch imprägnierte Mitmenschen lassen sich nicht bestechen. Es geht zur Sache. Mitschülerin Ljalja soll vergewaltigt werden. Erst diese Androhung bringt die Lehrerin zur Aufgabe. Resigniert rückt sie den Schlüssel heraus, um das Schlimmste zu verhindern. Aber es ist schon geschehen. Die Zerstörung hat alle erfaßt. Jahrelange Gewalt ist nach außen gebrochen, und die Schülergruppe formiert sich in dem Show-down zu einer Trainigsgruppe von KGB- Lehrl ingen. Aus der allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit ist eine Gesellschaft von Zynikern geworden, denen jedes Mittel recht ist. Gleichermaßen ist man für den diplomatischen Dienst als auch für die Mafiastrukturen des Schwarzmarkts vorbereitet. Ein weitsichtiger Vorausblick.
Susanne Raubold Vorstellungen 24.,.26., 27. ,28., 31.10.
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