Abgeordneter Claus-Brunner: Der Pirat in der Parlamentsmühle
Gerwald Claus-Brunner, der Pirat mit der Latzhose, ist seit Oktober Abgeordneter in Berlin. Als Quereinsteiger versucht er, das System zu prägen.
BERLIN taz | Ende Oktober, als der Pirat Gerwald Claus-Brunner seinen ersten offiziellen Arbeitstag im großen Saal des Berliner Abgeordnetenhauses verbringt, da wollen anschließend Journalisten von al-Dschasira, der BBC, von einem polnischen Radiosender und einem japanischen TV-Team mit ihm Sprechen.
Er haut Sätze raus wie: "Alle Latzhosenträger können nicht so viel Schaden anrichten wie ein Anzugträger" oder "Natürlich werden wir Fehler machen. Wer keine Fehler macht, ist ne faule Sau". Dann bricht er plötzlich alle Interviews ab: Er habe "Kohldampf" und müsse sich eine Bulette besorgen.
Gerwald Claus-Brunner ist einer von 15 Mitgliedern der Piratenpartei, die im Herbst 2011 ins Berliner Parlament gewählt worden sind – mit 8,9 Prozent der Stimmen. Der Erfolg der Piraten hat anschließend nicht nachgelassen, eher im Gegenteil. Die Zahl ihrer Mitglieder wächst ständig, es sind jetzt schon mehr als 28.000.
In Nordrhein-Westfalen und an diesem Sonntag in Schleswig-Holstein gilt der Einzug in die Parlamente als sicher. Wäre am Sonntag Bundestagswahl könnten die Piraten mit bis zu 12 Prozent rechnen. Bei ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende sprach ihr neuer Vorsitzender Bernd Schlömer schon von einer möglichen Regierungsbeteiligung.
Was die Piraten in Parlamenten erreichen können, lässt sich seit dem 27. Oktober in Berlin beobachten. Gerwald Claus-Brunner, 39 Jahre alt, ein Hüne mit Latzhose und Palästinensertuch, hat sich von Anfang an auf die Arbeit gestürzt, als hätte er ein schlechtes Gewissen, weil er jetzt 2.400 Euro netto im Monat verdient. Vorher bekam er Hartz-IV oder hatte Zeitarbeits-Jobs.
Die Ganze Geschichte über den Polit-Quereinsteiger Claus-Brunner, ein Gespräch mit dem besten deutschen Schiedsrichter und viele andere spannende Texte lesen Sie in der sonntaz vom 5./6. Mai. Am Kioks, eKiosk oder im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
Er hat lange auf den Großbaustellen dieser Welt gearbeitet, den Gotthard-Tunnel mitgebaut und das Paul-Löbe-Haus des deutschen Bundestags. Claus-Brunner meldete sich für sechs Ausschüsse an, er kam früh und ging spät.
Alles an ihm bekommt eine Bedeutung
Und schon nach kurzer Zeit erlebte er seinen ersten Medienskandal. Die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, warf ihm vor, er signalisiere mit seinem Palästinensertuch auf dem Kopf eine „antijüdische Gesinnung“.
Die Journalisten hörten nicht mehr auf bei ihm anzurufen. Claus-Brunner hatte das Gefühl, es gehe nur noch darum, ihn dazu zu bringen, einen Fehler zu machen. Er legt sich ein paar Sätze für die Medien zurecht. Er sagt, dass er eine jüdische Großmutter hat. "Und ich werde das Tuch tragen, solange mir das Grundgesetz das Recht der freien Meinungsäußerung einräumt."
Gerwald Claus-Brunner lernt, wie man mit Anfeindungen umgeht. Er stellt auch fest, dass alles an ihm jetzt eine Bedeutung hat.
Es sind Erfahrungen, die andere Piraten später teilen werden. In der Woche nach dem Parteitag haben die Angriffe der etablierten Parteien zugenommen.
Angriffe der Etablierten
Die Piraten hätten keine Idee, wie man eine bessere Zukunft gestalten könne, wirft ihnen Andrea Nahles, die Generalsekretärin der SPD, vor. Kristina Schröder, die Bundesfamilienministerin, erklärt die Piraten für nicht regierungsfähig. Cem Özdemir, der Grünen-Chef, fordert von den Piraten, sie sollten erst mal ihre programmatischen Lücken schließen, bevor sie übers Regieren nachdenken.
Die Piraten scheinen die politische Konkurrenz nervös zu machen. Aber je mehr sie von den Gegnern zu Außenseitern gemacht werden, desto höher könnten ihre Werte in den Umfragen steigen. Das Bedürfnis nach irgendeiner Art von Anti-Establishment-Partei scheint riesig.
In Berlin muss Gerwald Claus-Brunner unterdessen lernen, wie man als Oppositionspolitiker Politik macht. "Parteien sind letztlich auch nur Teil des Systems, das man eigentlich ändern will", knurrt er jetzt manchmal. "Mir ist das alles viel zu angepasst."
Wie der Pirat mit der Latzhose sich recht zügig zu einem richtigen Politiker entwickelt hat, mit Sprechstunde im Einkaufszentrum, wie er seine erste Rede hielt und wie das Fraktionsgeläster zum Politalltag gehört, das lesen Sie in der Ganzen Geschichte der aktuellen sonntaz vom 5./6. Mai 2012. Wir haben Claus-Brunner ein halbes Jahr lang begleitet.
Die sonntaz gibt es an jedem gut sortierten Kiosk, an unserem noch besser sortierten eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen