ARMES KREUZBERG: MÄNNER IN ROSA, NACKTE FRAUENBEINE, TIEFE DEKOLLETÉS UND LIBIDONÖSE NASEN BRINGEN ALLES DURCHEINANDER : Schwul-kosmopolitische Elemente schlecken Eis am Stil
VON ULRICH GUTMAIR
Ich kratzte die Kartoffeln aus der Pfanne, band mir die Schürze ab und aß. Allein, weil der liebe Gott es so gefügt hatte, dass Frau und Kind im Urlaub weilten, während ich mein Leben der linksalternativen Genossenschaft widmen musste. Danach träufelte ich mir Kölnisch Wasser auf die Brusthaare, machte mir ’nen Schlitz ins Kleid und eilte von dannen.
Catarina wollte Ausstand feiern und mit Fatma und mir ausgehen. Und weil ich fast so sittsam bin wie mein schwuler Kollege, der unlängst geheiratet hat, hatte ich Ronald dazugebeten. Catarina, Ronald und ich hatten es uns schon mit kalten Bieren auf dem Balkon vom Café Kotti bequem gemacht. Es war der erste richtige Sommertag, heiß, aber auch feucht. Wir zeigten uns unsere Beine und plauderten, als mit einiger Verspätung Fatma aus dem Wedding eintraf, in Begleitung ihrer Freundin Aylin aus Istanbul. Aylin trug knappe Shorts und eine leuchtend gelbe Bluse. Sie sah darin sehr gut aus, zu gut für die Multikultiprotestanten aus Kreuzberg. Denn eben, als Aylin den Balkon vom Café Kotti erklommen hatte, bekam sie von einem Müslitaliban zu hören, sie hätte sich wohl im Ort geirrt.
Stand nicht groß neben der Theke vom Café Kotti geschrieben, hier werde kein verbaler oder physischer Übergriff rassistischen, homophobischen, sexistischen oder transphobischen Inhalts toleriert? Im Café Kotti, deswegen gehe ich gerne hin, sind sie politisch und sexuell andersdenkend. Hier, dachte ich, zieht man praktische Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die sexuelle Orientierung ein Feld ist, auf dem sich Begehren und Politik kreuzen. Wenn nun aber Queerness der Modus ist, der die sozialen Koordinaten des Geschlechts durcheinanderbringt, sollte man sich hüten, junge Frauen mit Dekolleté in die Schischa-Bar wegzuschicken.
Wir tranken aus und streiften ein bisschen herum, als hinter der Markthalle ein Späti lockte. Der grandiose Jamiroquai-Song „Love Foolosophy“ tat einiges, unsere Stimmung zu verbessern, als wir Eis am Stil schleckten, das eigene und das der anderen. Es war doch schön in Kreuzberg. Da wuchs ein Mann, Marke Exfreak, wie Rumpelstilzchen vor uns aus dem Boden. „Fashion Week, was?“, deklamierte er hämisch. Er hatte uns als Fremdkörper identifiziert. Frauen orientalischer Herkunft mit nackten Beinen und gelben Blusen, Männer mit großen Brillen, rosafarbenen T-Shirts und Tüchern um den Hals, da konnte es sich nur um schwul-kosmopolitische bzw. migrantisch-transgressive Elemente handeln, die der offen als heterosexueller deutscher Spießer lebende Altszenetyp suspekt findet.
Meine Begleiterinnen begingen den schweren Fehler, zu beteuern, sie wohnten hier. Niemals auf faschistische „Argumentationen“ eingehen! Der Zampano seines Kiezes sagte, er werde jetzt Käse aus dem Auto holen. Davon riet ich ihm ab, weil auch der Käse bei der Hitze sicher schon schwitzte. Er werde jetzt Käse holen, wiederholte Rumpelstilzchen drohend. Und mir Haarspalter werde er mit dem Messer – er klappte sein Messer auf und wedelte vor uns damit herum – bei dieser Gelegenheit die Nasenhaare kürzen.
Ich ließ keinen Zweifel daran, dass mich dieser Akt der symbolischen Kastration mit einer leisen Befriedigung erfüllte. Handelte es sich bei meiner Nase womöglich um ein libidinöses Organ, das die sexuelle Orientierung eines ganzen Kiezes zu gefährden imstande war? Adolfo Zampano ging zu seinem Auto. Es war ein Geländewagen. Dabei rief er „Allahu Akbar“ und fügte mit Blick auf Fatma an, er werde ihr eine Maske besorgen. Er meinte wohl eine Burka.
Autoritäre Charaktere sind lächerlich. Fatma hatte trotzdem Angst bekommen. Ich musste an Helmut Höge denken, der unter der ehemaligen Besetzeraristokratie in der Oranienstraße einen überdurchschnittlich hohen Sarrazinisten-Anteil ausgemacht hat. Es war Zeit, den nächsten Fehler zu begehen.
Auf der Schlesischen Straße herrschte eine veritable Massenhysterie. Als wir endlich auf ein paar Stühlen gestrandet waren, schlenderten zwei Jungmänner vorbei. Nonchalant warfen sie Aylin eine Papierkugel ins Dekolleté und taten, als sei nichts gewesen. Ich sage dazu zweierlei. Erstens: Wo die verkniffene Moral des Kleinbürgers ihr Haupt erhebt, wird Polymorphismus zur Pflicht. Zweitens: Kreuzberg ist das neue Lankwitz.