: ARKTISCHE TRÄUME
■ Das Meereis war zur Zeit der hölzernen Schiffe eine gefahrvolle Welt. Auch heute, auf Schiffen mit stählernen Eisbrechern, bleibt keiner unbeeindruckt vom Eis der Arktis
Das Meereis war zur Zeit der hölzernen Schiffe eine gefahrvolle Welt.
Auch heute, auf Schiffen mit stählernen Eisbrechern, bleibt keiner unbeeindruckt vom Eis der Arktis.
VONWOLFGANGMORELL
Es ist kurz nach Mitternacht. Die Sonne steht hoch am Horizont. In heimatlichen Breitengraden könnte es ein sonniger Nachmittag gegen 3 Uhr sein. Ich liege in meiner Koje und versuche vergeblich Schlaf zu finden. Schlaftrunken, aber aufgeregt schaue ich aus dem Kammerfenster auf die vorüberziehende Eislandschaft, auf bizarre Gebilde, wie ich sie noch nie vorher gesehen habe. Wie unerhört unkonventionell und wunderbar die immer neuen Formen, Figuren und Farben sind. Das Meer als ein weißes, starres, unerfaßbares Schollengewirr und ein feingezeichneter, wildgezackter Horizont in der Ferne.
Den 53 internationalen, wissenschaftlichen Besatzungsmitgliedern und der 44köpfigen Schiffsbesatzung des bundesdeutschen Forschungsschiffes „Polarstern“ ergeht es ähnlich wie mir, denn dieses Naturschauspiel kennt kein Ende, und kein Kinothriller kann es spannender inszenieren. Beim Brechen des bis zu fünf Meter dicken Packeises erreichen die Erschütterungen die entlegensten Winkel des Schiffes. Manchmal ist es für kurze Zeit ruhig, wenn sich die „Polarstern“ festgefahren hat. Dann geht das Schiff volle Fahrt rückwärts durch die offene Fahrrinne, durch das gebrochene Eis, stoppt und rammt mit voller Fahrt vorwärts.
Ein bequemes, entspanntes Liegen in der Koje ist unmöglich. Muskelanspannungen werden notwendig, um ein Rollen oder sogar das Herausfallen aus der Koje zu verhindern. Irgendwann, übermüdet, schlafe ich ein, die Eislandschaft zieht draußen sowie im Traum in mir weiter vorbei.
Die siebte Arktis-Expeditionsreise des Forschungsschiffes FS „Polarstern“ führt in das Eis der Grönlandsee. Sie ist ein Beitrag zum internationalen Grönlandsee-Projekt und wird durchgeführt vom Betreiber der FS „Polarstern“, dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Physikalische, chemische und biologische Untersuchungen der Grönlandsee, Vermessungen der Frontalzone der Arktisfront, fischereibiologische Untersuchungen auf dem Grönlandschelf, Messungen über Mikrowelleneigenschaften des Eises und Studien über Sedimentseinschlüsse im Eis sind die Ziele der Forschungsreise.
Mein Ziel auf dieser Reise ist das Fotografieren von Wasser im Aggregatzustand EIS. Das Fotografieren einer der eindrucksvollsten und ältesten Wasserlandschaften der Erde, einer ihrer wildesten und majestätischsten Gegenden. Eine Landschaft, die eine eigene Betrachtungsweise erfordert. Kaum eine Substanz auf der Erde ist so geschmeidig, so unerwartet kompliziert, so täuschend passiv wie Wasser.
Die Eisbildung in der Arktis wird so sehr von Wind und Strömung beeinflußt, daß es kaum glatte Eisflächen gibt. Wenn das Eis vom Wind zerbrochen wird, schieben sich die einzelnen Schollen wie verschachtelt übereinander, oder sie bilden Wälle von Eistrümmern. Diese Eistrümmer werden wiederum zu Preßeishügeln abgeschliffen. Wenn das Eis weiter von Wind, Gezeiten und Strömung zerbrochen und dann von den gleichen Kräften übereinandergeschoben wird, bilden sich die vielfältigsten Preßrücken von mächtiger Höhe und Schönheit.
Bizarre, schöne, mächtige Eisformationen
Am anderen Morgen, noch vor dem Frühstück, gehe ich auf die Schiffsbrücke und beobachte, wie sich der mächtige Bug der „Polarstern“ auf eine schneebedeckte Eisscholle schiebt. Das Eis bricht krachend und knirschend durch die Last des über 10.000 Tonnen schweren Schiffes. Riesige, abgebrochene Eisschollen schieben kratzend und tösend am Bauch des Schiffes zum Heck und geben wieder ein Stück Fahrrinne frei.
Das Meereis war zur Zeit der hölzernen Schiffe eine gefährlichere Welt, als es uns heute von der Brücke der „Polarstern“ mit ihrem stählernen Eisbrecherrumpf erscheint. Aber auch heute ist kein Besatzungsmitglied unbeeindruckt von dem Eis der Arktis. Es wird nur von Menschen ignoriert werden, für die die Widerspenstigkeit der Landschaft so etwas wie Aufruhr ist, eine Störung, die durch die Technik bezwungen werden muß.
Die offensichtliche und entwaffnende Schönheit fehlt merkwürdigerweise auf den im 19. Jahrhundert von Europäern gemalten Landschaften dieser Breiten. Die Arktis, die sie malten, war ein Ort außerhalb der Grenzen der Zivilisation, eine Bestie, die Mut und Unternehmungsgeist aushöhlte. Zu den berühmtesten dieser Gemälde gehört Caspar David Friedrichs Die gescheiterte Hoffnung von 1821 (Hamburger Kunsthalle), auf der ein Forschungsschiff zwischen riesigen, zusammengeschobenen Eisschollen zerquetscht liegt.
Nach dem Frühstück, die drei Mahlzeiten sind hier das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Tages, begebe ich mich mit meiner Fotoausrüstung zum Bug. Einige Meter über den krachenden Eisschollen fixiere ich meine Motive. In pastellfarbenem Türkis, Blau, Smaragdgrün und in glitzerndem Licht wälzt sich das Brucheis unter mir am Schiff entlang. Manchmal, wenn unter dem Druck des Schiffes Wasser aus sich auftuenden Rissen und Spalten zischt, verschwimmt für kurze Zeit alles hinter einer leichten Regenbogenwand. Unzählige Male wiederholt sich dieses Schauspiel, aber dennoch immer wieder anders.
Am Abend fliege ich mit einer Eisforschergruppe auf eine Eisscholle. Über das Eis zu fliegen ist eine leichte Art, die tektonischen Aktivitäten des Eises zu würdigen, es als nie ganz zur Ruhe kommende Oberfläche des Polarmeeres zu begreifen. Als der bordeigene Helikopter uns, in Überlebensanzüge gepackt, weitab des Schiffes auf dem gefrorenen Ozean absetzt und uns mit der Landschaft allein läßt, begreife ich erst die Ruhe, die die Arktis ausstrahlt. Die Schiffsgeräusche, das brechende Eis und die Helikoptergeräusche rauschen noch immer in meinen Ohren.
Ein bißchen mulmig wird mir, als ich an das 3.000 Meter tiefe Wasser unter dieser Eisscholle denke. Aber die Eislandschaft macht den Eindruck absoluter Dauer. Sie ist nicht feindselig. Sie ist einfach da, unberührt, still und vollkommen. Sie ist sehr einsam, aber das Fehlen von menschlichen Spuren gibt mir ein sympathisches Gefühl für diese Landschaft.
Nach langer Zeit komme ich schließlich dazu, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Beim ersten Klicken meiner Kamera fahre ich erschrocken zusammen und denke an das geräuschvolle Einbrechen des Schiffes in diese Landschaft. Ein paar Motive abgelichtet, gehe ich in Richtung eines wuchtigen Eiszackens. Auf dem Weg dorthin erkenne ich kleine Miniaturlandschaften wie aus der Vogelperspektive. Erinnerungen aus der Kindheit werden wach, als ich mit meiner Modelleisenbahn spielte.
Durch Tauen und Wiedergefrieren der Eisoberfläche bilden sich die lebhaften, fast realistischen Landschaften. Gerade springe ich über die Alster. Links neben mir fließt die Elbe in Richtung Nordsee. Aber plötzlich, nach etwa zehn Metern, etwa bei Glückstadt, mündet von rechts die Mosel in die Elbe. Als ich einen Schmelztümpel ausmache, der wie der Bodensee aussieht, entdecke ich in seiner Mitte ein kleines Schmelzloch, das durch die Eisscholle hindurchgeht. Ich ahne nur, daß unter mir die Fische und Seehunde schwimmen und in einer unergründlichen Tiefe Gebirgslandschaften liegen.
Eine Bestie jenseits der Zivilisation
So lebensfeindlich die Arktis für uns Menschen ist, so verfügt diese kalte Tiefe über eigene, vielfältige Arten von Flora und Fauna. Die ersten Wale und Robben, die gesichtet werden, sorgen an Bord für begeisternde Neugierde. Als ein Vogel- und Walbeobachter später an einem Tag über 25 Wale zählt, läßt das Interesse aus Gewohnheit an den großen Tieren nach.
Die „Polarstern“ steht gerade auf Station im Eis, um eines der vielen Maßprogramme zu absolvieren, da zeigt sich der erste Eisbär. Er ist noch weit weg vom Schiff und bewegt sich langsam mit geschmeidiger Gelenkigkeit über steile und komplizierte Hindernisse auf uns zu. Tut sich vor ihm offenes Wasser auf, so gleitet er elegant in das kalte Naß hinein und steigt fast schwerelos auf die nächste Scholle. In sicherer Entfernung bleibt er stehen und hebt seine Nase in die Höhe. Vielleicht, um in uns eine Delikatesse auszumachen. Mittlerweile steht die gesamte Besatzung auf Deck und beobachtet den Eisbären, ebenfalls aus sicherer Entfernung.
Die Freiheit der gigantischen Eiswildnis
Wir können uns als Europäer keine Vorstellung machen von dem tiefen Frieden und der Schönheit dieser gigantischen Eiswildnis. Ob wir wohl wissen, was wir tun oder zulassen, wenn wir eine Kreatur aus dieser größten Verträumtheit herausreißen und in die Großstädte verschleppen? Wissen wir, was wir tun, wenn wir einen Eisbären in einen Käfig sperren, dieses kraftvolle Tier, das geschaffen ist, den größten Naturgewalten zu trotzen, den eisigen Stürmen auf treibendem Eis? Das Tier, dem es gegeben ist zu wandern, unentwegt zu wandern über Meere, vereiste Inseln und Länder, rastlos durch das weiteste, ungestörteste Reich der Erde.
Ich glaubte schon fast dem Wesen der Natur nahe zu sein, als mir auffällt, daß die Situation jetzt eine verkehrte ist, daß meine Anwesenheit hier nicht natürlich ist. Er, der Eisbär, da draußen in Freiheit, wir, hier drinnen, gefangen in einem sympathischen Klotz Technologie, der uns Arbeitsplatz, Freizeit, Wohnung und Heimat für fünf Wochen ist.
Als die „Polarstern“ nach 36 Tagen Arktisfahrt im norwegischen Tromsö festmacht, drehten sich die Maschinen 1.964 Stunden, 935 Tonnen Gasöl wurden dabei verbrannt und 9.549 Kilometer bewältigt. Die bordeigene Seewasseraufbereitungsanlage mußte 925.000 Liter Frischwasser erzeugen, um unser Überleben in der Arktis zu gewährleisten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen