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ANSTÄNDIGER RAUSCH

■ Zwanglose Klassenpsychiatrie in der „Maison“

Das no(n)-restraint-System, das System der gewaltfreien Behandlung für Gemütskranke war oberstes Gebot in Dr. Eduard Levinsteins Heilanstalt „Maison de Sante“, dem Haus der Gesundheit. Levinstein und sein Vordenker und ärztlicher Berater Wilhelm Griesinger folgten den „Somatikern“ unter den Psychiatern des vergangenen Jahrhunderts, die die Ansicht vertraten, daß neurologische und seelische Krankheiten körperliche (somatische) Ursachen haben. Mit dem Einsetzen der naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie zu Zeiten Levinsteins setzte sich die Erkenntnis durch, daß die Irren nicht selbst an ihrem Zustand schuld waren und deshalb wie körperlich Kranke behandelt werden mußten.

Die entgegengesetzte Theorie vertraten die „Psychiker“. Sie sahen sittlich-moralische Verfehlungen der Betroffenen als Ursache für deren Krankheiten an, oftmals auch aus theologischen Gründen. Ihre Methoden gegen den selbstverschuldeten Irrsinn bestanden folgerichtig aus verschiedenen Zwangsmaßnahmen. Die Patienten mußten beispielsweise festgebunden an Armen, Beinen und Kopf zwangsstehen oder zwangssitzen, oder wurden in Drehmaschinen liegend oder sitzend herumgeschleudert wie in einem Karussell. Andere Therapien bestanden in kalten Sturzgüssen, bei denen der Patient in einer Badewanne saß und aus ein bis zwei Metern Höhe eimerweise Wasser auf den Kopf gegossen bekam. Der Psychiater Ernst Horn versprach sich von diesen Maßnahmen folgende Wirkung: „Wütende Kranke wurden hierdurch gebändigt, stürmische und unruhige wurden zur Folgsamkeit und Ordnung gebracht, arbeitsscheue und träge wurden geweckt und fleißiger.“

Solche Foltermetoden gab es nicht in der „psychiatrischen Abteilung“ der „Maison de Sante“. Als 1866 neben der „Inneren Medizin“ die Abteilung für Gemütskranke aufgemacht wurde, könnte man aus heutiger Sicht fast von einer Musterklinik sprechen. Dreißig Patienten, die in Einzel oder Doppelzimmern untergebracht waren, wurden von etwa der gleichen Zahl an Wärterinnen und Wärtern umsorgt, hatten Zugang zum Garten und reichlich zu essen. Lebte sonst der „Wärter“ mit seinem Pflegling zusammen, wurde der „unruhige“ nur durch einen Spion in der Tür beobachtet. Und fing er an auszurasten, gab es Injektionen mit Morphium, Opium, Chloroform oder ein warmes Dauerbad zur Beruhigung. Als letzte Maßnahme galt Levinstein die Unterbringung in der Isolierzelle, der „Polsterstube“. Wenn ein Patient außer sich geriet, schrieb Levinstein, sollen „drei Wärter in das Zimmer treten, den Kranken schnell in die Höhe heben und ihn ohne ein Wort zu sprechen in die Polsterstube tragen“. Hatte sich der Kranke beruhigt, waren die Wärter angewiesen, zu ihm hinzugehen und ihm freundlich ihre Dienste anzubieten.

Zwangsmaßnahmen aus heutiger Sicht sind allenfalls die „Polsterstube“ und die Medikamentengabe. Doch im Gegensatz zu Psychiatern in unserer Zeit hätte Levinstein möglicherweise den Wunsch des Betroffenen respektiert, wenn er kein Chloroform gewollt hätte.

Neben dem reformerischen Ansatz der „Somatiker„-Theorien war vor allem ein Grund für die humanen Zustände in der „Maison de Sante“ verantwortlich. Sämtliche Bewohner waren Privatpatienten und zahlten für ihre Unterbringung zwischen 200 und 750 Mark im Monat, reichlich für einen entsprechenden Luxus und genügend Pfleger für Gemütskranke in Indiviadualbetreuung, wie man heute sagen würde.

Das änderte sich mit der zunehmenden Urbanisierung von Schöneberg, in der auch die Zahl der Geisteskranken in ganz Berlin um 50 Prozent anwuchs. 1871 entschloß sich Eduard Levinstein auf dem Gelände der „Maison de Sante“ eine „Filiale der Städtischen Irren-Verpflegungsanstalt“ zu eröffnen. Eine für den Ruf der Klinik folgenschwere Entscheidung. Eine Zweiklassenklinik entstand: eine für gutsituierte Privatpatienten und eine für normal Verrückte, für deren Unterhalt die Stadt täglich einen Betrag von etwa zwei Mark zahlte. Für die öffentlichen Irren gab es wesentlich weniger Pfleger, sie wurden in großen Krankensälen untergebracht und, so vermuten MitarbeiterInnen des Kunstamtes Schöneberg, verstärkt mit den damals üblichen Medikamenten behandelt - eine Situation, die man detailgetreu in die heutige Zeit übertragen kann.

Wenige Pfleger betreuen viele Patienten nur unzureichend. Neuroleptika heißen die Medikamente, die in der „modernen“ Psychiatrie verabreicht werden und menschliche Zuwendung und Pflege ersetzen sollen. Wenn man neueste wissenschaftliche Studien zu deren Wirkungen, Nebenwirkungen und Spätfolgen der Neuroleptika liest, muß man annehmen, die Patienten des Doktor Levinstein waren mit Opium und Morphium besser bedient. Davon hatten sie zwar eine Sucht am Hals, aber wenigstens auch einen anständigen Rausch.

Was heute anders ist als damals, ist die Kostenrechnung in der Psychiatrie. Häuser, wie die „Maison de Sante“ mit wenigen Patienten und viel Personal wären billiger zu finanzieren als die moderne Großklinik. Tagessätze von bis zu 350 Mark werden von überdimensionalen Verwaltungen aufgefressen, Folgekosten der Neuroleptikabehandlung kommen noch hinzu.

Daß kleinere psychiatrische Einrichtungen auch in therapeutischer Hinsicht der bessere Weg sind, haben Ärzte und Politiker nach mehr als hundert Jahren seit der Gründung der „Maison de Sante“ gemerkt, wie zuletzt 1976 aus dem Bericht der Enquete-Kommission zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik hervorgeht. Seitdem sind wieder mehr als zehn Jahre vergangen, eine Expertenkommission hat ein neues Gutachten erstellt. Zumindest der Berliner Senat ist inzwischen aufgewacht und hat Schritte zum Abbau der Großkliniken angekündigt. Zeit wird's.

Lars-Ulrich Schlotthaus

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