: AM STRASSENRAND
■ Pavement Dweller in Bombay
Mary wohnt in Bombay, in der prestigeträchtigen Gegend zwischen Flora Fountain und Marine Drive; dort, wo Banken und Konzerne ihre Zentralen haben und wo das wirtschaftliche Herz Bombays und ganz Indiens schlägt. Aber Mary wohnt weder in einem der kolonialen Prachtbauten aus britischer Zeit noch in einem der vielen Hochhäuser. Sie wohnt mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern unter einer zwei mal drei Meter großen Plastikplane am Rand der verkehrsreichen Mahatma-Gandhi-Road, zwischen den Parks Cross Maidan und Azad Maidan.
Mary wurde in Bombay geboren. Ihr Vater starb früh, ihre Mutter trank und mißhandelte sie, so daß sie als Kind von zu Hause fortlief, um bei Verwandten in Goa zu leben. Aber auch dort erfuhr sie keine bessere Behandlung. Sie kam nach Bombay zurück und lebt nun seit 25 Jahren als „Pavement Dweller“ an der M.-G.-Road.
Diese Bewohner des Straßenrandes sind die unterste Klasse der Unterprivilegierten. Wenige haben eine feste Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen. In den meisten Familien müssen auch die Kinder einen Hungerlohn zum Lebensunterhalt beitragen. In einigen Fällen sind Kinder sogar Alleinverdiener, weil die Eltern krank und arbeitsunfähig sind. Einige Frauen und Männer verkaufen Kerzen oder Blumen an einem christlichen Schrein im Cross Maidan, andere reinigen die Touristenbusse, die von M.-G.-Road nach Goa abfahren, arbeiten als Gepäckträger oder verkaufen kleine Erfrischungen. Nicht wenige putzen auch die umliegenden Büros.
Nicht nur die wirtschaftliche Situation dieser Menschen ist jeden Tag aufs neue ungewiß. Viel schlimmer empfinden sie selbst, daß ihre Behausungen permanent von der Zerstörung durch die Polizei oder die Räumkommandos der Stadtverwaltung bedroht sind. Schon immer waren die kleinen Kolonien aus Plastik und Bambus den imagebewußten Stadtvätern ein Dorn im Auge. Am 10. Juli 1985 legalisierte ein Urteil des Obersten Gerichts Indiens die Räumung solcher Siedlungen, und seither scheut sie Bombay Municipality Corporation (BMC), die Stadtverwaltung von Bombay, keine Mühe, die Pavement Dweller aus dem Zentrum der Stadt zu vertreiben.
Zeitweise kommen die Räumkommandos täglich. Es gibt keine Vorwarnung. Gesetzlich erlaubt ist nur die Beschlagnahme der Baumaterialien; Hausrat und persönlicher Besitz der Bewohner darf nicht angetastet werden. Aber wie so oft ist auch hier das Gesetz wenig wert. Fast immer wandert unterschiedslos die gesamte armselige Habe der Pavement Dweller auf die Ladeflächen der städtischen Lkws. Bemühungen der Pavement Dweller, ihren Besitz wiederzuerlangen, sind selten erfolgreich. Häufig werden sie von der Stadtverwaltung von einer Dienststelle zur nächsten geschickt, und oft werden hohe, illegale Auslösesummen verlangt. In einigen Fällen wurden mehrere Lkw-Ladungen einfach ins Meer gekippt.
Vor 1985 hatten die Behausungen der Pavement Dweller halbwegs feste Strukturen aus Holz und Blech. Heute gibt es nur noch zeltartige Unterkünfte. Aber auch deren Zerstörung ist jedesmal ein großer Verlust. Allein eine neue Plastikplane kostet circa 100 Rupien, das entspricht fünf bis zehn Tagesverdiensten. Viele Familien sind dazu übergegangen, jeden Morgen ihre Behausung selbst abzubrechen. Das Plastik und der Hausrat werden tagsüber versteckt, und erst abends nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Räumtrupps Feierabend haben, wird alles wieder aufgebaut. * * *
Seit gut drei Jahren sind die Pavement Deweller im Kampf um die Verbesserung ihrer Situation nicht mehr allein. Geht man nachmittags in den Azad Maisan, so sieht man neben den unzähligen Cricketspielern, die Indien mit den meisten ehemaligen britischen Kolonien gemeinsam hat, am Rand der großen Wiese ungefähr 40 Kinder mit einigen Frauen in einem weiten Kreis sitzen. Es ist die „offene Pavement-Schule“, die seit 1985 von YUVA (Youth for Unity and Voluntary Action), einer der vielen sozialen Aktionsgruppen Indiens, für die Kinder der M.-G.-Road organisiert wird. Aus einem Projekt an einem College für Sozialarbeit in Bombay entstanden, das einige Studenten und Professoren nach offiziellem Arbeitsende unabhängig weiterführten, hat sich YUVA zum Programm gemacht, mit den Unterprivilegiertesten der Unterprivilegierten zu arbeiten.
Nur wenige Kinder, die an der M.-G.-Road wohnen, gehen in eine normale Schule. Den meisten fehlt sowohl die Zeit als auch das Geld dazu. Anderen wurde die Aufnahme verweigert, weil sie weder eine feste Adresse noch eine Geburtsurkunde vorweisen konnten. Aber schon wegen ihrer völlig anderen Lebenserfahrung könnten sich diese Kinder wohl kaum in einer normalen Schule zurechtfinden. Auch die Mitarbeiter von YUVA mußten erst lernen, diesen besonderen Umständen Rechnung zu tragen. Eine Sozialarbeiterin erzählt: „Anfangs versuchten wir Alphabetisierung auf die konventionelle Art. Die Kinder sollten zuerst Buchstaben, dann Wörter und schließlich ganze Sätze schreiben lernen. Aber damit hatten wir keinen Erfolg. Die Kinder kamen unregelmäßig, und es war selten möglich, auf die vorhergehende Stunde aufzubauen. Jetzt gehen wir den umgekehrten Weg: Wir sprechen in der Klasse über den Alltag der Kinder, und dabei suchen wir Schlüsselwörter, die wir dann schreiben.“ Das erste Wort, das die Kinder auf diese Art zu schreiben lernten, war „Ghar“, Haus. Die Schule hat heute zwei Altersgruppen, und die meisten Kinder kommen regelmäßig.
Die Kinder sind so stark von der Erfahrung des ständigen Kampfes um eine Behausung geprägt, daß der Einsatz für die Wohnrechte der Pavement Dweller folgerichtig zum nächsten Engagement YUVAs wurde. Aber die Bemühungen sind schwierig, und grundlegenden Erfolg gab es bisher nicht.
Wann immer es jetzt zu Räumungen kommt, benachrichtigen die Betroffenen die Mitarbeiter von YUVA. Deren Anwesenheit kann zwar die Räumung nicht verhindern, aber wenigstens schränkt sie die Gewaltanwendung durch die Räumtrupps ein. Und YUVA führt genaue Listen illegal beschlagnahmter Gegenstände, die nach jedem Vorfall der Polizei und der Stadtverwaltung übergeben werden. Ein wichtiger Schritt zur Anerkennung der Rechte der Pavement Dweller war wohl auch, daß sie vor einigen Monaten nach vielen „Morchas“, Demonstrationen, endlich sogenannte „Ration Cards“ ausgestellt bekamen, die zum Einkaufen in subventionierten Regierungsgeschäften berechtigen, aber auch allgemeine Ausweisfunktion haben. Es war das erste Mal, daß eine Pavement-Kolonie geschlossen diese Karte ausgehändigt bekam. Nun laufen Bemühungen um Eintragung in die Wählerlisten. Denn obwohl die meisten Bewohner der M.-G.-Road seit zehn bis zwanzig Jahren in Bombay wohnen, ist ihnen bisher stets das Wahlrecht verweigert worden. * * *
Am 14.November 1988 veranstalteten die Kinder verschiedener Pavements zusammen mit YUVA ein großes Fest im Azad Maidan. Es war der 100.Geburtstag Nehrus, der in Indien als Tag des Kindes gefeiert wird - normalerweise, indem Süßigkeiten verteilt werden, aber ohne auf die Probleme von Millionen benachteiligter Kinder einzugehen. Dieses Fest war anders: Die Kinder stellten ihre Situation mit Tanz, Drama und Gesang dar und gaben anschließend eine Pressekonferenz. In der verteilten Presseerklärung heißt es: „Viele unserer Häuser wurden oft zerstört. Die Leute sagen, wir können hier nicht leben, wir machten Bombay schmutzig. Aber wir wurden hier geboren. Wohin sollen wir gehen?“
Die Zukunft sieht alles andere als rosig aus: Die Regierung des Bundesstaates Maharashtra, dessen Hauptstadt Bombay ist, ist mit den „Erfolgen“ der BMC bei der Vertreibung der Pavement Dweller und der Verhinderung von Neuansiedlungen äußerst unzufrieden. Sie hat einen eigenen, bewaffneten Räumtrupp aufgestellt. „Betroffene Bürger“ werden aufgerufen, über Notruf Neusiedlungen in Slums und Pavements zu melden. Ihnen wird innerhalb von 24 Stunden Abhilfe versprochen. Manchmal arbeiten sogar indische Behörden schnell...
Martin Sökefeld
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