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ABSTÜRZENDE BILDER

■ Corsetti macht mit dem Studio Azzurro Videokunst in der Tanzwerkstatt

ABSTÜRZENDE BILDER

Corsetti macht mit dem Studio Azzurro Videokunst in der

Tanzwerkstatt

Der Sturz des Steinbrockens auf den Monitor und die Zersplitterung der Mattscheibe hielt nicht nur ich für einen technisch perfekten, genau ausgetimten und zudem noch sehr konsequenten Knalleffekt - es schien nur logisch, daß die Mattscheibe, auf der die Gruppe bis dahin ihre Bilder in Einzelteile zerlegt hatte, nun selbst in Scherben zerplatzt

-aber es war ein nicht einkalkulierter Triumph der Schwerkraft, der den Stein stürzen ließ. Ausgerechnet beim Bild des Sisyphos.

Giorgio Barberio Corsetti hat mit dem Studio Azzurro, einem Kollektiv für Videokunst, zusammen ein Puzzle ausgeknobelt für sieben Tänzer, zwei große Wippen, ein Dutzend Monitore und eine schwer errechenbare Zahl von Video-Kameras. Ihr Spiel ist ein überdimensionierter Video-Clip. Die Einheit des Körpers wird zersprengt wie in den Klappkarten für Kinder, mit denen man dem Schwanz eines Krokodils den Bauch einer Kuh und den Kopf eines Hasen aufpflanzen kann. Die Tänzer gehen verloren zwischen ihren Projektionen auf den Bildschirmen und ihrer realen Anwesenheit auf der Bühne. Die physische Präsenz, das Gebundensein an Zeit und Ort, verliert seine Bedeutung - sie teilen und verdoppeln sich. Selbst der Schwerkraft versuchen sie auf riesigen Wippen zu entkommen.

Aber dieses Spiel, in dem es unmöglich wird, das Gleichzeitige vom Ungleichzeitigen zu trennen, die Realität von der Simulation zu unterscheiden, rächt sich. Die aus ihren Bindungen entlassenen Körper verlieren ihre Aussagekraft; die Sprache ihrer Gesten verschwimmt. Begegnungen, die freundschaftlich beginnen, enden mit Gewalt. In allem liegt ein aggressiver Unterton; nur noch einem Gesicht auf dem Monitor streckt die Tänzerin die Hände zärtlich entgegen.

Der Verlust der Realität und die Gewalt der Aufnahme gerinnt in Bilder von zweifelhafter und grausamer Faszination. In zwei Monitoren ertrinkt eine Frau wie in einem Aquarium; ihre Hände klopfen gegen die Scheibe. Für Sekunden stockt beängstigend das Tempo, mit dem die Tänzer zwischen den Bildebenen wechseln - einer bleibt hängen im Netz der Projektionen. Das ist eine neue Variante der Geschichte von Peter Schlemihl, der seinen Schatten verloren hat und mit Sieben-Meilen-Stiefeln über die Welt saust. Um nicht gänzlich aus der Realität zu schießen, bindet sich auf der Bühne ein Tänzer Felsbrocken unter die Schuhe, damit ihn das Gewicht am Boden hält.Katrin Bettina Müller

„La Camera Astratta“ von der Compagnia Teatrale di Giorgio Barberio Corsetti mit dem Studio Azzuro noch mal am 8. Juni um 20 Uhr im Theaterzelt an der Freien Volksbühne.

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