76 Millionen Euro verpulvert: EU-Fahndungssystem vor dem Aus
Die Entwicklung des Fahndungssystems SIS II erweist sich als teures Debakel zur Verbrecherjagd. Die Bundesregierung will die Planungen jetzt beenden und setzt auf das bestehende System.
BERLIN taz | Das Fahndungssystem SIS II sollte die Verbrecherjagd über europäische Ländergrenzen hinweg vereinfachen. Fingerabdrücke und Fotos von gesuchten Personen sollten darin registriert werden. Doch die technische Umsetzung gleicht einem Desaster. Jetzt schildert selbst die Bundesregierung, die die Pläne lange verteidigt hatte, das System als eine teure Folge von Fehlschlägen und will die Entwicklung abbrechen – obwohl sie den EU-Haushalt bisher mit rund 76 Millionen Euro belastet hat. Das geht aus der Antwort von Innen-Staatsekretär Klaus-Dieter Fritsche (CSU) auf eine Anfrage der Linkspartei hervor, die der taz vorliegt
Als in den 1990er Jahren die Polizeikontrollen an den europäischen Binnengrenzen wegfielen, wurde als Ausgleich ein zentraler Fahnungscomputer in Betrieb genommen, das Schengen Informationssystem (SIS). Gespeichert werden dort europaweit gesuchte Personen und vor allem Ausländer mit Einreiseverbot in die EU. Auch Millionen gesuchter Gegenstände wie gestohlene Autos, Pässe oder Bankkonten sind im SIS erfasst. Allein in Deutschland kann der SIS-Server an 180 000 Polizei-Computern abgefragt werden.
Massive Probleme macht jetzt das geplante Folgesystem SIS II, das neben der Registrierung biometrischer Daten gesuchter Personen auch besserer Recherchemöglichkeiten bieten soll. Den Auftrag zur Entwicklung von SIS II erhielt die EU-Kommission 2001. Schon vor vier Jahren sollte es in Betrieb genommen werden, seitdem wurde der Start bereits fünf Mal verschoben und steht jetzt für kommendes Jahr an.
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Die Bundesregierung findet das mittlerweile „fraglich“. Denn im vergangenen Jahr scheiterten zwei "Meilenstein-Tests". Die Datenbank erwies sich dabei als instabil, sie produzierte Fehler und reagierte "erratisch", also unvorhersehbar, so Staatssekretär Fritsche. Relativ unverblümt plädiert die Regierung deshalb dafür, einen Schlussstrich unter SIS II zu ziehen. Der technische Ansatz sei inzwischen "veraltet" und die Auftragnehmer seien überfordert. Angesprochen ist damit ein Konsortium um den Server-Hersteller Hewlett-Packard und die Software-Consultants von Steria Mummert.
Die Aufgabe von SIS II wäre allerdings ein teurer Fehlschlag. Ursprünglich waren laut Bundesregierung für SIS II 14,6 Millionen Euro vorgesehen. Inzwischen wurden aus dem EU-Haushalt aber bereits 76 Millionen Euro ausgegeben - ohne brauchbare Gegenleistung. Staatsekretär Fritsche wirft der EU-Kommission deshalb auch "Managementfehler" vor, sie habe fehlerhafte Leistungen akzeptiert und auf Vertragsstrafen verzichtet.
Derweil wird SIS I, der weiterhin benutzte alte Fahndungscomputer, immer leistungsfähiger. Während beim Start 1995 nur sieben Staaten, inklusive Deutschland, angeschlossen waren, sind es heute schon 22 EU-Staaten plus Schweiz, Island und Norwegen. SIS I+ heißt das Fahndungsystem inzwischen.
Und Frankreich, das den Computer im Auftrag der EU betreibt, will auf diesem Weg weitergehen. SIS I+ soll so ausgebaut werden, dass es die von SIS II erwarteten Leistungen bald selbst erbringen kann. Das würde die EU zwar weitere 26 Millionen Euro und weitere drei Jahre Zeit kosten. Die Bundesregierung bezeichnet das aber als "zeitnahe und kostengünstige Lösung". Ein weiteres Festhalten an SIS II dürfte also eher noch länger dauern und noch mehr zusätzliches Geld verschlingen.
"Dumm gelaufen", kommentiert Jan Korte von der Linksfraktion die Regierungs-Antwort. Etwas Schadenfreude ist wohl auch dabei, denn die Linke hält den Ausbau des europäischen Fahndungscomputers in beiden Varianten für überflüssig. "Es ging in den letzten Jahren doch ganz offensichtlich auch so", meint Korte.
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