76 Atombomben auf Stoltenbergs Heimatland

■ Der Verteidigungsminister auf den Spuren der Atomkriegspläne des untergegangenen Warschauer Paktes

Bonn (dpa/taz) — Mit schwerem Geschütz gegen die inzwischen einverleibte NVA trat Verteidigungsminister Stoltenberg gestern vor die Presse: Der ehemalige Warschauer Pakt habe bei einer kriegerischen Auseinandersetzung in Mitteleuropa geplant, allein seine Heimat Schleswig-Holstein mit 76 Atomwaffen zu verwüsten. Auch gegen Niedersachsen, Nordhessen und Nordbayern seien massive Atomschläge vorgesehen gewesen. Davon sei der Osten noch 1989 bei einer Übung ausgegangen. Diese Einsichten schöpft der Chef der Hardthöhe aus NVA-Dokumenten zu den strategischen und operativen Kriegsplanungen des Warschauer Paktes. Zwar seien viele Unterlagen vernichtet worden, bevor die Bundeswehr am 3. Oktober 1990 in die Kasernen des einstigen Gegners einzog, aber aus den noch vorgefundenen 25.000 Dokumenten gingen diese Pläne hervor. Sogar einen „Blücher-Orden“ für ihre Soldaten habe die NVA schon bereitgehalten, sagte Stoltenberg.

Nach den Vorstellungen der Militärführer des ehemaligen östlichen Paktes sollte der Atomwaffeneinsatz gleich zu Beginn eines Krieges vor allem dazu dienen, einen Durchbruch durch die westliche Verteidigung zu erzielen, führte Stoltenberg aus. In Stabsübungen der NVA sei der Atomwaffeneinsatz „als Erstschlag“ durchgespielt worden. Was allerdings bei seiner Schilderung nicht deutlich wird: Hatte der Warschauer Pakt tatsächlich eine Angriffsstrategie, oder verstand das östliche Militärbündnis diese Pläne als Reaktion auf einen vorhergehenden Angriff der Gegenseite — und damit genauso wie die offizielle Lesart der Nato? Auch die westlichen Waffenbrüder hatten sich ja mit ihrer Ende der 60er Jahre proklamierten Strategie der „flexilen Antwort“ keineswegs darauf festgelegt, Atomwaffen erst nach einem nuklearen Angriff einzusetzen. Ein konventionell geführter Angriff sollte mit Atombomben pariert werden.

Aus den Dokumenten geht laut Stoltenberg hervor, daß die östlichen Armeen Mitteleuropa innerhalb von vier Wochen bis zur spanischen Grenze überrennen wollten. Schon am 13. Tag des Krieges gegen Westeuropa sollten Dänemark, die BRD, die Niederlande und Belgien eingenommen sein. Der Warschauer Pakt habe von Beginn eines militärischen Konfliktes mit der Nato an auf Offensive gesetzt. Auch die Nato plante, mit der sogenannten „Vornewegverteidigung“ ihr Territorium möglichst unbeschadet zu halten — beim Einsatz von ABC-Waffen in jedem Fall eine verrückte Vorstellung. aje