75 Jahre TV: Das Fernsehen ist an allem schuld

Das Internet wird das Fernsehen nicht umbringen – doch die Zeit der großen TV-Veranstaltungen ist vorbei. Die Bilanz von 75 Jahren Flimmerkiste.

Zeit für die Rente? Bild: fleißiges faultier/photocase

Ein Gesundheitsinspektor […] berichtete diese Woche, dass eine kleine Maus, die vermutlich ferngesehen hatte, ein kleines Mädchen und dessen ausgewachsene Katze angriff. […] Maus wie Katze haben überlebt, und der Vorfall wird hier als Zeichen gewertet, dass sich die Dinge verändern." James Reston,

New York Times, 7. 7. 1957

Das Fernsehen ist an allem schuld. Wenn der Bundestag nicht mehr in der Öffentlichkeit mit der gebotenen Aufmerksamkeit wahrgenommen wird. Wenn sich SchülerInnen nicht mehr konzentrieren können. Sich dafür aber Menschen freiwillig in Trash-Talkshows und bei "Deutschland sucht den Superstar" zum Affen machen. Oder echte Richter mit Barbara Salesch verwechselt werden. Und gesellschaftlich relevante Themen televisionär nur noch als Krimi gehen, möglichst gleich als "Tatort". Der Rest ist "Unterschichtsfernsehen".

"Wir amüsieren uns zu Tode", und das nun schon seit 75 Jahren (siehe Chronik). Allein, auf dieses Buch gewordene Verdikt des amerikanischen Kulturpessimisten Neil Postman von 1985 konnte sich die vereinte Intellektualität bis heute nicht in jeder Hinsicht verständigen: Was das Fernsehen genau beim Zuschauer anrichtet, bei Kindern zumal, bleibt diffus wie die Geschichte von Katz und Maus. Doch es wird Zeit, wenn noch ein endgültiges Urteil über das Leitmedium des 20. Jahrhunderts gefällt werden soll. Denn das 21. Jahrhundert kennt keine Gnade.

Kurze Technikgeschichte des Fernsehens: Wie sich der krisselige Rundfunk der Nazis zum hochauflösenden TV der Gegenwart entwickelte.

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Nach zahlreichen Versuchssendungen beschließt die deutsche Reichspost, am 22. März 1935 ein regelmäßiges Fernsehprogramm auszustrahlen. Die Nazis wollten der britischen BBC zuvorkommen. Das erste Fernsehprogramm wird in einer Auflösung von 180 Bildzeilen auf sehr kleinen Bildschirmen ausgestrahlt. Gezeigt wurden zunächst an drei Tagen der Woche von 20.30 bis 22 Uhr aktuelle Bildberichte und Spielfilmausschnitte sowie Liveaufnahmen im Studio.

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Die Briten starten erst im Herbst 1936 ihr Fernsehprogramm mit 441 Bildzeilen – zum Vergleich: Unser Standard-TV läuft mit 625 Zeilen. Auch in Frankreich, in der Sowjetunion und in den USA gibt es Fernsehprogramme. Während in Frankreich und Deutschland etwa 250 Empfangsgeräte in Privathaushalten stehen, werden in Großbritannien über 4.000 gezählt.

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Die BBC stellt ihr Programm zu Kriegsausbruch ein. In Deutschland und im besetzten Frankreich wird noch bis 1944 vornehmlich zur Unterhaltung von verletzten Soldaten in ihren Lazaretten gesendet. Nur in den USA geht die TV-Wirtschaft richtig los. Schon 1952 sind 15 Millionen Geräte im Einsatz.

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Während in Europa ab 1946 die BBC das erste Nachkriegsprogramm startet, entwickeln die Amerikaner schon das Farbfernsehen, das sie 1953 einführen. Das erste deutsche regelmäßige TV-Programm geht am 21. Dezember – Stalins Geburtstag – in der DDR auf Sendung, vier Tage später beginnt der NWDR damit. Und 1953 erleben die Europäer als erste Eurovisionssendung die Krönung von Elizabeth II.

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Durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1961 wird Privatfernsehen in Deutschland zunächst verboten. Es fehlen Frequenzen für einen pluralen Meinungsmarkt, argumentiert das Gericht. Daraufhin beschließen die Bundesländer die Gründung des ZDF. 1967 wird in Westdeutschland das Farbfernsehen eingeführt. Die DDR wartet damit bis 1969.

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Mitte der Siebzigerjahre empfiehlt eine Bundestagskommission die Erprobung von Kabelfernsehen in vier Pilotprojekten. Das Kabel bietet Platz für wesentlich mehr Sender, somit sollen auch Experimente mit Privatfernsehen gemacht werden. 1984 gehen der Vorläufer von Sat.1 und RTL auf Sendung. Ende der Achtzigerjahre kommt auch der Satellitendirektempfang hinzu. In der Fernsehtechnik experimentiert man erstmalig mit modernem hochauflösendem Fernsehen und digitaler Signalübertragung.

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Ab Mitte der Neunzigerjahre wird das Digitalfernsehen eingeführt. Es ermöglich noch mehr Programme auf zahlreichen Satelliten- und Kabelkanälen. 75 Jahre nach dem Regelbetrieb für das Fernsehen geht zu Olympia 2010 der Regelbetrieb von High Definition Television (HDTV) los, also Fernsehen mit einer noch höheren Auflösung als beim Standard Television (SDTV).

JÜRGEN BISCHOFF

Und so dürfte sich das Fernsehen bald dort wiederfinden, wo es ursprünglich einmal herkam: "Wir senden Frohsinn", lautete die programmatische Ansage des ab den 1920er-Jahren zunächst mal als "Bildfunk" entwickelten Mediums im "Dritten Reich". Für Propagandazwecke setzten die Nationalsozialisten lieber auf das etablierte Kino und den Hörfunk. Der Deutsche Fernseh-Rundfunk war zwar technisch schon weit entwickelt. Doch im Programm blieb es in erster Linie beim Wunschkonzert - zur Ablenkung und Erbauung kriegsgeplagter VolksgenossInnen in den wenigen Fernsehstuben und zur Erheiterung des vorübergehend im Lazarett geparkten Kanonenfutters. Bis dann ab 1943 für rund zehn Jahre Pause war.

Noch in den 1950er-Jahren verlief der Aufstieg des Fernsehens zum Massen- und Leitmedium mit angezogener Handbremse, doch zugleich mit dem Wirtschaftswunder ging es dann ganz schnell: Bis Ende 1960 waren 4,5 Millionen gebührenpflichtige Geräte registriert. Fernsehen war nun nicht mehr das kinoähnliche Gemeinschaftserlebnis in der Fernsehstube, sondern fand im heimischen Wohnzimmer statt – und blieb trotzdem kollektiv: Bei den bis 1984 maximal zu empfangenden drei TV-Programmen in der alten BRD (die DDR hatte bis auf abgelegene Regionen schon immer ein bisschen mehr TV-Auswahl, weil die westdeutschen Sender weit in den Arbeiter-und-Bauern-Staat hineinstrahlten) ließ sich der gesellschaftliche Diskurs übers Fernsehen ohne größere Streuverluste angehen: Schließlich hatten alle grosso modo das Gleiche gesehen.

So entstanden die "Lagerfeuer" der Television: Die "Tagesschau" und die große Samstagabendshow, die fein nach politischer Couleur ausbalancierte Politmagazinlandschaft, die "Sportschau" mit dem Menschenrecht auf zeitnah übertragenen Männerfußball - und, schon fast am Ende der öffentlich-rechtlichen Hochzeit, 1981 "Wetten, dass …?".

Mit der Einführung des privaten Rundfunks 1984 erlebte das Fernsehen zwar noch einen Höhenflug, sie sollte aber schon an seiner Eigenschaft als allseits akzeptiertes Leitmedium kratzen. Bis Ende der 1990er-Jahre entstanden immer neue private Sender, auf die das öffentlich-rechtliche System mit Ausgründungen eigener Art reagierte: Die vermeintlich anspruchsvolleren Programminhalte wurden an Phoenix, Arte, 3sat und andere Spartenkanäle weitergereicht. In den Hauptprogrammen macht man sich seither im dualen System Konkurrenz und sendet eher mal "Frohsinn". Dabei verschliefen private wie öffentlich-rechtliche Sender die Ankunft des Internets im Alltag um gut fünf Jahre. Eine Onlinestrategie haben beide Seiten nicht - gemeinsam passiert auf dem Feld schon gar nichts.

Dabei gilt jetzt erst recht, was der kanadische Literaturwissenschaftler Marshall McLuhan schon 1960 für den Übergang vom Buch- zum Fernsehzeitalter formulierte: Das alte Leitmedium sei "no longer king, it's subject", so McLuhan. Was beim Buch allerdings noch ein paar Jahrhunderte dauerte, hat beim Fernsehen keine 75 Jahre gebraucht - es wird vom Herrscher zum Untertan. Das Internet mit seinen Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme wird das Fernsehen nicht umbringen – und Couch-Potatoes wird es immer geben. Doch die Zeit der großen TV-Veranstaltungen ist vorbei, auch wenn beispielsweise das ZDF die immer magereren Quoten von "Wetten, dass …?" noch tapfer wegzuerklären versucht.

2008 verzeichnete das Statistische Bundesamt erstmals über 150.000 Fernsehgeräte weniger als im Vorjahr. Vor allem bei jungen Menschen geht die tatsächliche Sehdauer drastisch zurück: 2004 sahen nach einer Untersuchung von Goldbach Media Menschen zwischen 12 und 29 noch 103 Minuten am Tag "klassisch" fern - 2009 waren es nur noch 84 Minuten. Gesehen - und in großem Umfang selbst gemacht - wird trotzdem immer mehr: Im Internet. Dass bei einem solchen "Programm" die Qualität nicht automatisch Sieger wird, ist bekannt: "As people become more and more involved, they know less and less", ist noch so ein McLuhan-Spruch – von 1967.

Wie schwierig "alte" Medien den Übergang in neue Zeiten finden, zeigt sich nirgendwo besser als in der immer noch anhaltenden, nervtötenden "Wer darf online?"-Debatte zwischen Öffentlich-Rechtlichen, Privatsendern und Verlegern. Videoclips im Internet werden da plötzlich zum "Bewegtbild", der WAZ-Konzern setzte vor ein paar Wochen allen Ernstes sogar einen "Beauftragten für Bewegtbilder" ein. Das klang selbst 1935 irgendwie moderner.

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