: 700 Jahre „Gefängnis Schweiz“: Muß der tote Dürrenmatt mitjubeln?
Zu Lebzeiten hatte sich Dürrenmatt stets geweigert, literarischer Vorzeigeschweizer zu sein/ Zur 700-Jahr-Feier nun droht die Vereinnahmung ■ Aus Basel Thomas Scheuer
Ihr 700jähriges Bestehen feiert die Schweiz in diesem Jahr. Da wollte sich das Parlament nicht lumpen lassen und ließ sich für seine Gedenk- und Jubiläumssitzung mal was ganz Besonderes einfallen: Theater soll am Donnerstag dieser Woche im Saal des Nationalrates gespielt werden. Zwar verfügen auch die Volksvertreter naturgemäß über eine gewisse Übung; doch aus feierlichem Anlaß sollen dieses Mal echte Schauspieler ran. Zur Aufführung gelangen soll „Herkules und der Stall des Augias“. Ein angemessenes Stück für die parlamentarische Bühne der Eidgenossenschaft, sollte man meinen. Schließlich war das politische Programm der letzten beiden Jahre dominiert von Polit-Thrillern zu Themen wie Geldwäscherei, Fluchtkapital und Staatsschutzaffäre. (Von dem Trauerspiel „Wie trete ich der EG bei, ohne ihr beizutreten“ mal abgesehen.) Nicht wenige Landeskinder mögen tatsächlich zu der Meinung gelangt sein, 700 Jahre nach Beginn der Veranstaltung gehörten die Augias-Ställe der Alpenrepublik mal richtig ausgemistet, etwa die Keller des Staatsschutzes, in denen sich 900.000 Karteikarten stapeln oder die Bunker der geheimen Untergrundarmee P26 („Swiss-Gladio“) oder die ebenso geheimen Nummernkonten der Politganoven dieser Welt von Schalck-Golodkowski bis Saddam Hussein. Statt dessen ließen die Berner Oberen nur vor dem Bundeshaus fegen: Mit sanftem Druck wurde die lokale Drogenszene kürzlich von der Bundeshausterrasse in einen nahen Park verlegt.
Drinnen soll es mit Symbolik getan sein — Herkules als Hauptrolle. Die Sache wäre ohne Aufsehen über die Bühne gegangen, wäre da nicht der Autor des Stückes gewesen: Friedrich Dürrenmatt. Er starb im vergangenen Dezember. Wie Max Frisch stand auch Dürrenmatt in Opposition zur offiziellen Schweiz. Die Rolle literarischer Vorzeige-Schweizer verweigerten beide stets. Zum politischen Testament Dürrenmatts geriet eine Rede, die er kurz vor seinem Tod, am 22. November 1990, zur Verleihung eines Preises an Vaclav Havel hielt. In der „Havel-Rede“ nannte er die Schweiz „ein Gefängnis, wohinein sich die Schweizer geflüchtet haben“. Wie viele Schriftsteller, Bildhauer, Filmleute und Musiker des Landes hatte sich auch Dürrenmatt dem Kulturboykott der offiziellen 700-Jahr-Jubelfeiern angeschlossen. Nie und nimmer wäre der Dramatiker mit der Offizial-Aufführung seines „Herkules“ im Bundeshaus einverstanden gewesen. Da ist sich die Witwe des Autors, Charlotte Kerr, sicher. Doch sie intervenierte beim Parlamentschef und über die Medien vergebens. Denn die Rechte an Dürrenmatts Werk liegen beim Diogenes-Verlag. Und für den gab Verleger Daniel Keel grünes Licht. Denn zu Lebzeiten habe sich Dürrenmatt, so die verrenkte Interpretation des Literatur-Händlers, nur gegen seine Teilnahme an offiziellen Feiern gewandt. Im Berner Bundeshaus sei aber eine „geschlossene Aufführung“ geplant. „Wir sind überzeugt“, meint Keel, „wenn er noch lebte, würde Dürrenmatt das ganz toll finden, vor allem auch deshalb, weil gerade dieses Stück in diesem Parlament ein Unikum ist.“ Verleger Keel muß Dürrenmatt wohl besser gekannt haben als Charlotte Kerr. Doch was lag näher, als den Dramatiker ganz einfach selbst zu Wort kommen zu lassen? Die zündende Idee blieb einer „Kulturgruppe Augias“ vorbehalten. Sie will am Donnerstag, während drinnen Herkules auftritt, mit Tonbandgerät und Lautsprechern den Platz vor dem Bundeshaus mit Dürrenmatts Havel-Rede beschallen. „Noch einmal“, so kündigt die Gruppe an, „wird man also seine Stimme hören, seine Meinung über die offizielle Schweiz, deren Festarsenal er gegen seinen erklärten Willen mit Theater bestückt. Man wird sich folglich beim Anhören der Rede seine eigene Meinung darüber bilden können, ob ein Dichter, der die Schweiz ein Gefängnis genannt hat, tatsächlich einverstanden gewesen wäre mit der Aufführung seines Stücks am Kompanieabend der Oberaufseher.“
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