5. November 1989: Wurst statt Bananen
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Ich bin krumm und lahm. Ich habe Muskelkater, die Schultern schmerzen von den kantigen Holzlatten, an die wir unser Transparent genagelt hatten. Und doch geht es mir gut. In allen Fernsehnachrichten flimmern die Bilder der gestrigen Demonstration über den Schirm. Die Superlative, mit denen die Kommentatoren den Aufzug bedenken, klingen weniger verlogen als sonst. Auch wenn scheinbar keine Einigung über die tatsächliche Zahl der Teilnehmer herzustellen ist – die Zahlen schwanken zwischen weit mehr als einer halben und knapp einer Million – es war die größte Demonstration, die es in Deutschland je gegeben hat. Das Ereignis hält mich immer noch in Bann. Gestern, das war der Tag, auf den so viele so lange gewartet haben. Ich auch. Gestern ist der Knoten geplatzt. Es ist, als seien die Schleusen geöffnet worden, doch zum Vorschein kam nicht Haß, sondern Witz und Weisheit. „Es geht nicht um Bananen, es geht um die Wurst“, war auf einem Plakat zu lesen. Kürzer kann man es nicht sagen.
Und trotzdem verstehen es nicht alle. Noch am vergangenen Abend hat der stellvertretende Innenminister erklärt, zur ständigen Ausreise aus der DDR genüge nunmehr der Personalausweis und ein einfacher Antrag. Auf mich wirkt das geradezu wie die Aufforderung an alle Unzufriedenen, nun doch bitteschön endlich das Land zu verlassen, damit man in Ruhe weitermachen kann wie bisher. Das kenne ich lange genug. Auch mich hat die Stasi oft genug bedrängt, einen Ausreiseantrag zu stellen, anstatt weiter „Unruhe zu stiften“. Ich glaube aber, seit gestern zieht das nicht mehr. Der Zipfel der Wurst, um die es geht, ist fest in unserer Hand. Basta. Wolfram Kempe
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