5 Jahre nach dem Mord an Hatun Sürücü: Noch immer gibt es viele Fragen
Vor fünf Jahren wurde Hatun Sürücü ermordet. Was verbinden Berliner heute mit dem Namen der Deutsch-Türkin? Hat sich das Angebot verbessert? Sechs Antworten.
"Der Mord an Hatun Sürücü hat die Nöte, in denen sich viele türkische Frauen befinden, tief ins Bewusstsein gerückt. Dass Frauen getötet werden, weil sie sich nicht dem männlichen, archaischen Herrschaftssystem unterwerfen wollen: Es ist erschreckend, was für eine Gewaltbereitschaft in manchen Familien herrscht. Die patriarchalisch geprägten Familienstrukturen werden vom Vater über die Söhne weitergegeben und offenbar von der ganzen Familie mitgetragen."
Vera Junker ist Vorsitzende der Vereinigung Berliner Staatsanwälte.
Mit einer Kranzniederlegung in Tempelhof wird am Sonntag um 11.00 Uhr der vor fünf Jahren ermordeten Deutsch-Türkin Hatun Sürücü gedacht. Die nach einer Zwangsehe geschiedene Mutter eines damals fünf Jahre alten Sohns war am 7. Februar 2005 von ihrem jüngeren Bruder erschossen worden. Der damals 18-jährige Täter wurde zu neun Jahren verurteilt. Der Freispruch für seine Brüder wurde 2007 aufgehoben. Der Prozess wurde aber nicht wieder aufgerollt, da beide Männer in der Türkei leben. Das Land liefert seine Bürger nicht aus. (ddp)
"Beim Thema Zwangsverheiratung hat sich einiges getan seit dem Mord an Hatun Sürücü: Zahlreiche Bundesländer haben Beratungsstellen gegründet und Notunterkünfte für Frauen geschaffen. Doch leider kocht immer noch jedes Land sein eigenes Süppchen, einheitliche Gesetze fehlen noch. Da in Deutschland immer mehr Daten über Menschen gesammelt werden, fällt es bedrohten Frauen immer schwerer, länger unterzutauchen. Deshalb brauchen wir beispielsweise dringend eine Änderung des Meldegesetzes."
Sibylle Schreiber ist Referentin bei der Frauenrechtsorganisation Terre des femmes
"Der jüngste Bruder hat die Tat gestanden, er ist rechtskräftig verurteilt worden. Die beiden mitangeklagten älteren Brüder sind freigesprochen worden. Der Bundesgerichtshof hat den sehr sorgfältig begründeten Freispruch aufgehoben. Ehrenmorde sind schreckliche archaische Taten. Aber nicht alle Taten, die auf den ersten Blick als Ehrenmord wahrgenommen werden, sind einer. Als Strafverteidiger bin ich da eher vorsichtig und kann vor einem Klima der Vorverurteilung nur warnen."
Peter Zuriel ist Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger
Kenan Kolat
"Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich an diesen schrecklichen Mord denke. In meinen Augen gehören die Begriffe Ehre und Mord nicht zusammen. Ehrwürdig ist, wenn man sich gegen jegliche Form der Diskriminierung wendet."
Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland
Tülay Usta
"Was den Mord an Hatun Sürücü angeht, waren die Meinungen in der türkischen Community damals durchaus geteilt. Der überwiegende Teil, zu dem ich gehöre, hat die Tat als sehr beschämend und unverzeihbar empfunden. Aber eine Minderheit hat den Mord durchaus befürwortet. Hatun Sürücü hatte sich in Deutschland integriert, sie hat ihr Leben selbstbewusst in die Hand genommen. Sie hat das getan, was viele türkische Frauen tun. Aber im Unterschied zu den meisten Familien hat Hatuns Familie das nicht akzeptiert. Bestürzend ist, dass sie von ihrem eigenen Bruder, dem sie vertraut hat, in eine Falle gelockt worden ist. Das hat viele Mädchen, die in einem ähnlichen traditionellen Umfeld leben, extrem verunsichert. Der Mord hat vieles an die Oberfläche gespült. Er hat dazu geführt, dass Frauen und Mädchen freier über häusliche Gewalt diskutieren können. Leider ist das Problem nach wie vor in türkischen Familien existent. Die Stiftung "Hatun und Cem", die bedrohten Migrantinnen Zuflucht bietet, wird von Anfragen geradezu überrannt."
Tülay Usta, Mitglied des türkischen Elternvereins
Micha Schmidt
"Der Mord an Hatun Sürücü hat auch an den Schulen hohe Wellen geschlagen, aber das ist inzwischen leider kein Thema mehr. Die Zeit ist so schnelllebig, da machen sich die jungen Leute über andere Sachen Gedanken. Angesichts der Informationsflut über weltweite Krisen sind viele Jugendliche heute völlig überfordert, wenn es um komplexe Themen wie Ehrenmorde geht."
Micha Schmidt ist von der Landesschülervertretung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern