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49 Meter über dem Meer

Bergfest auf Bremens höchster Erhebung – dem Müllberg der Blocklanddeponie. Der Kulturladen Huchting inszenierte „49 Ü.ber N.ormal N.ull“, eine Prozession zu den Orten des nur zu gern Hinterlassenen

Zulusprechende und trommelnde Laken als Könige der MüllmännerDie tollste Bremen-Sicht, bei undefinierbaren Gasen

„Ich sehe die ganze Welt“, verkündet ein kleiner semmelblonder Junge und stellt sich auf die Zehenspitzen. Um ihn herum ein Meer von knallbunten Plastik-Lollistengeln, hier und da eine zerkrumpelte Erdnusstüte. Dass die Welt nicht nur aus dem Waller Fernsehturm und den Verladekränen des Freihafens besteht, wird er noch früh genug erfahren. Auch, dass es Berge gibt, die um einiges höher sind als 49 Meter und dass es schon irgendwie kurios anmutet, wenn Bremer Bürger ihren eigenen Müllhügel erklimmen. Das haben sie am Sonntag scharenweise getan: Die Bremer Entsorgungsbetriebe hatten wieder zum Bergfest auf der Blocklanddeponie eingeladen.

Sogar waschechte Alphornbläser hatten sich in die Bergidylle verirrt, rundherum wimmelte es von Seilbahnrutschern, Ponyreitern, Seifenkistenfahrern und Steilwanderklimmern. Doch oben, auf dem Gipfel des Mülls, in schwindelnder Höhe, da wollte aufgerüttelt, erinnert, demonstriert werden gegen das Vergessen der menschlichen Hinterlassenschaften.

Da pilgerten die weißgewandeten Verbündeten des Kulturladens Huchting um den Unratsgipfel. Weißgetünchte Gesichter, weiße Hüte und breite Besenstilschultern unter weißen Lakengewändern. „Weiß ist am weitesten von Müll entfernt“, so Claudius Joecke, künstlerischer Leiter des Projekts „49 Ü.ber N.ormal N.ull“. Ermahnende oder gar anklagende Worte fielen nicht, stattdessen wurde musikalisch und auf Zulu des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen gedacht. Da zierten Türme aus Alufolie oder Styropor den Ort des Wirkens, Spülmittelflaschen und alte Schuhe flogen durch die Gegend. Trotzdem herrschte erhaben ruhende Atmosphäre.

Nachdem sie im vergangenen Jahr mit der Inszenierung Unter N.ormal N.ull bis in die Tiefen der Bremer Kanalisation vorgedrungen waren, schnupperte die Crew des Kulturladens diesmal modrige Höhenluft. „Wenn die Leute ihren Müll in die Tonne werfen, ist er auf einmal weg“, erklärte Joecke. Dass diese Hinterlassenschaften trotzdem noch existierten, dessen seien sich nur Wenige bewusst.

Die Bergprozession war ein mülltechnischer Rundumschlag: Absurde Altkleidertorsi tanzten vor schnödem Hafenpanorama; Weißgewandete stampften mit riesigen Stößeln auf Containerdächer; Mülltonnen als Statistenmehrheit. Sogar die Vergessenen der Gesellschaft, Häftlinge der JVA Oslebshausen, kamen via Tonband zu Wort.

Das Ergebnis des Ganzen war nicht nur Simulation von Sortierungs- oder Kompostierungsanlagen, sondern teilweise äußerst eindrucksvolle Tonnenpercussion. Weißgewandete vor dunstigem Augusthimmel, aber auch (viel zu) viele Umzüge und zuluhaft Unverständliches. „Es geht nicht darum, alle Inhalte klar zu transportieren“, erklärte Joecke. „sondern um die Installation im öffentlichen Raum. Sonst hätten wir ja auch einen Mülllehrpfad machen können.“ Er hoffe aber trotzdem, dass die Bergprozession entsprechende Assoziationen in den Zuschauerhirnen geweckt habe.

Selbige waren jedoch stark beeinträchtigt von anderthalb etwas langatmigen Stunden, dazu schwelender Hitze und undefinierbaren Gasen auf dem Müllberg. Sogar die Alphornbläser hatten zwischendurch Pause gemacht. „Papa, wer ist der Mann und was machen die da?“, fragte ein weizenblondes Mädchen und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Vielleicht ist das der König der Müllmänner“, antwortete Papa. „Ach komm, lass uns runter gehen und beim Ballonfahrtwettbewerb mitmachen.“

spo

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