: 40 Quadratkilometer Bosnien
Crashkurs für die Bundeswehr: In Unterfranken werden deutsche Soldaten auf ihren Einsatz in Exjugoslawien vorbereitet ■ Vom Truppenübungsplatz Wolfgang Gast
Nur gut, daß Johann Epp auch fließend Russisch spricht. Der Unteroffizier, der im sibirischen Omsk als Sohn einer deutschstämmigen Familie zur Welt kam, steht auf der Ladefläche eines mittelgroßen Lkw. Wie die Kameraden trägt auch er das Maschinengewehr schußbereit quer vor dem Oberkörper. Und weil der Einsatz gefährlich werden kann, ist für alle Helm und Splitterschutzweste obligatorisch. Es wird sich zeigen, daß Sprachkenntnisse mitunter besser helfen.
Offizier Epp und Kameraden haben den Auftrag, eine britische Einheit der Friedentruppe in Bosnien (Ifor) mit dringend benötigter medizinischer Ausrüstung zu versorgen. Ein Befehl, der die Soldaten aus dem deutschen Ifor-Kontigent weg von ihrem Stützpunkt Küste im friedlichen Kroatien führt – in die bosnischen Wälder.
Ein schräg gestelltes Gitter ist vor den Windschutzscheiben der beiden Mercedes-Lkw angebracht. Der selbstgezimmerte Rahmen mit dem darüber gespanntem Maschendraht soll Schutz sein gegen Handgranaten und andere Sprengsätze. Im Prinzip ist zwar seit Dezember Frieden, doch niemand kann ausschließen, daß nicht irgendelche marodierenden Soldaten irgendeines lokalen Warlords den Versorgungszug unterwegs angreifen. „Think safety“,haben die Ausbilder den Soldaten eingebleut, und so halten im Ausguck hinter den fest montierten Maschinengewehren zwei Soldaten konzentriert Ausschau – bereit, potentielle Angreifer mit Waffengewalt zurückzuwerfen.
Langsam kriecht der Konvoi den verschneiten Waldpfad entlang, und plötzlich steht er vor der Sperre. Ein improvisierter Schlagbaum, ein kräftiger roher Baumstamm mit Rollen von Nato-Draht umwickelt, verhindert jede Weiterfahrt. Wenige Meter entfernt qualmt vor einem Zelt ein Lagerfeuer. Darum herum sitzt ein bunt gewürfeltes Dutzend uniformierter Männer, die Waffen griffbereit.
In der Sprache der Nato-Friedenstruppen handelt es sich um einen „illegalen Checkpoint“. Illegal, weil es ihn seit der Unterzeichnung des Friedenvertrages in Dayton gar nicht geben dürfte, denn: In dem Abkommen haben alle beteiligten Seiten den ungehinderten Verkehr in allen Teilen Bosniens zugesichert. Im Prinzip sind die Streitkräfte der Friedenstruppe auch ermächtigt, die uneingeschränkte Mobilität notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzten.
Welcher Fraktion das Dutzend am Feuer angehört, ist nicht erkennbar. Die Männer weigern sich zunächst, den gestoppten Konvoi überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Der deutsche Zugführer läßt die Motoren abstellen. Zaghaft rufen die Bundeswehrler erst in Deutsch und dann in Englisch – sie verlangen den Chef zu sprechen. Lähmende Minuten vergehen, bis Bewegung in die Gruppe um das Lagerfeuer kommt.
Betont lässig, die Kalaschnikow in der Armbeuge, schlendern drei in Uniformen der früheren Nationalen Volksarmee herbei. Satzfragmente in verschiedenen Sprachen fallen, Englischbrocken werden auf beiden Seiten gemurmelt. Mit einem Mal stellt sich heraus, daß wenigstens einer am Checkpoint Russisch sprich. Ein glücklicher Zufall, denn nun kann der Unteroffizier Epp dolmetschen. Während einer der Wegelagerer Zigaretten fordert, lungern andere um die Fahrzeuge.
Wie zufällig kullert eine Nebelgranate in die unmittelbare Nähe der Lastwagen. Schlagartig wird die Situation unüberschaubar, und als sich der dichte orangerote Rauch nach einer Weile verzieht, hat der Checkpoint-Mann eine Geländekarte aus dem Führerhaus eines Lkw stibitzt. Hilflos und verunsichert fordert der Zugführer wiederholt, den Chef der Truppe zu sprechen. Doch der hockt weiterhin am Feuer. Vor Schreck erstarrt, die Hände an die Waffen geklammert, stehen die Bundeswehrsoldaten auf ihren Lkw-Pritschen. Die Situation droht zu eskalieren.
Ein Wegelagerer ergattert mit einem Sprung das schwere Funkgerät von der Ladefläche, ein anderer klaut einen Rucksack. Und mit einen Mal ist der Chef da, fragt scheinheilig, was er für die Soldaten tun könne. Jetzt beginnen Verhandlungen, zähe Verhandlungen; am Ende rückt der Zugführer frustiert ein Zehntel der Medizinausrüstung heraus, als Preis für die Rückgabe von Funkgerätes und Karte, und für die Durchfahrt.
Das Funkgerät wird zurückgegeben, die Schranke hebt sich. Die Ifor-Soldaten klettern auf die Laster. Doch als die Wagen anfahren, ist der Schlagbaum schon wieder unten. Das Spielchen geht in eine neue Runde. Der Chef sagt in gebrochenem Englisch: „It was open. You did not drive.“ Wild gestikulierend: „I have no time and time is money.“ Der deutsche Zugführer appeliert nun an die Ehre des Chefs, schließlich sei der Handel mit einem Handschlag unter Männern beschlossen worden.
Das wirkt. Zigaretten werden übergeben, dann darf der Konvoi unter dem Gejohle der Checkpoint-Besatzer endlich die Sperre passieren.
Dieses Bosnien liegt auch im vierzig Quadratkilometer großen Truppenübungsplatz Hammelburg in Unterfranken. Kaum haben die Lastwagen den Checkpoint hinter sich, ruft der Ausbilder: „Übung unterbrochen.“ Konvoibesatzung und Wegelagerer treten an, die Vorstellung wird ausgewertet.
Kein Zweifel: Die am Checkpoint als Wegelagerer verkleideten Soldaten waren haushoch im Vorteil. Seit Anfang Dezember triezen sie Woche für Woche ihre Kollegen. Mit jeder neuen Übung wird ihr Auftreten perfekter.
„Gut gelöst“, sagt der Ausbilder. Gut, weil die Auseinandersetzung nicht eskalierte, weil nicht geschossen wurde. Gut auch, weil es gelang, das Funkgerät zurückzubekommen. Bleibt als Tip fürs nächste Mal: „Ihr dürft nicht so blauäugig sein. Gebt die Kisten erst raus, wenn ihr schon halb durch den Checkpoint durch seid.“
Jeder der dreieinhalbtausend deutschen Soldaten, die in Kroatien stationiert werden, muß durch das Nadelöhr Hammelburg. Egal, ob er sich als Wehrpflichtiger freiwillig für den Einsatz gemeldet hat oder ob er als Zeit- beziehungsweise Berufssoldat dazu den Befehl erhalten hat. In einwöchigen Crashkursen werden jeweils rund 600 „Kontingentsoldaten“ von der IX. Inspektion der Infanterieschule Hammelburg fit für den Out-of-area-Einsatz gemacht.
Acht Ausbildungsstationen müssen die Kandidaten durchlaufen. Sie trainieren das Bergen verschütteter Personen, das Fahren im Konvoi, den Abtransport Verletzter, das „Verhalten unter Beschuß“, das Aufspüren von Minen.
Geschossen wird in Hammelburg natürlich auch. Nach Regeln, die in „rules of engagement“ für den Einsatz festgelegt sind. Jeder im deutschen Ifor-Kontingent trägt diese Regeln als Taschenkarte mit sich. Abgedrückt werden darf danach zur Selbstverteidigung: Wenn eine Ifor-Einrichtung gestürmt werden soll, „um die Wegnahme oder Zerstörung von Material“ der Ifor-Truppen zu verhindern; und bei Versuchen, das deutsche Ifor-Kontingent „an der Erfüllung seines Auftrages zu hindern“.
Weiter heißt es auf dem grünen Kärtchen wörtlich: Vor Eröffnung des Feuers ist der Schußwaffengebrauch in Englich mit den Worten: „Ifor – Stop or I fire!“ beziehungsweise in Serbokroatisch mit den Worten „Ifor – Stani ili pucam“ (sprich: „Ifor – Stani ili putsam“) anzudrohen. Wenn es die Situation zuläßt, ist der Anruf zu wiederholen. Wird der Anruf nicht beachtet, ist mindestens ein Warnschuß abzugeben.
Unteroffizier Johann Epp und seine Kameraden werden nach „Blauhelmregeln“ unterwiesen. Die Bundeswehr unterscheidet für den Einsatz nicht zwischen einem klassischen Blauhelmeinsatz und einem Einsatz unter Nato-Führungsstrukturen. Höchste Priorität hat der Schutz der eigenen Kräfte. Das zeigt sich auch in einer Übung, bei der das Bergen von Verletzten nach der Explosion eines Blindgängers geprobt wird. Die Verwundeten werden dabei medizinisch versorgt, der Rettungshubschrauber per Funk gerufen. Über den Luftweg wird ein Soldat ins Krankenhaus eingeliefert. Zivile Opfer kommen nur mit, wenn noch Platz im Helikopter ist.
Die Ausbilder erwarten von den Soldaten eine „lupenreine Disziplin“ und eine „hohe Motivation“. Die ist im Lager Felschental reichlich vorhanden. Das Lager ist auf dem Truppenübungsplatz das getreue Abbild eines der Stützpunkte, die jetzt von der Bundeswehr an der dalmatinischen Küste errichtet werden. 400 Meter lang, 120 breit, umgeben von sechsfach aufgeschichtetem Nato-Draht.
In der Mitte steht ein Beobachtungsturm, Zigtausende Sandsäcke sind für Befestigung gefüllt worden. Nur die Container fehlen, in denen die Soldaten beim Einsatz untergebracht werden. Die Industrie komme mit der Lieferung nicht nach, erklärt Oberstleutnant Schreiter, der als Chef der XI. Division für die Ausbildung der Ifor- Leute zuständig ist.
Mittags treffen sich sie Militärazubis im Felschental. Neben Unteroffizier Epp ist dort auch Jochen Schaub, ein einfacher Wehrpflichtiger mit dem Dienstrang eines Gefreiten. Er hat seinen Wehrdienst aus eigenen Stücken um zwei Monate verlängert, weil er an dem Einsatz teilnehmen wollte. Zwischen Schokolade und „Mittagessen feldmäßig“, also kalt, erzählt der Soldat einer westfälischen Panzerpionierkompanie, daß er Anfang Februar im kroatischen Benkovac stationiert werden und dort eine Schützenpanzer des Typs „Fuch“ fahren soll.
Es ist der zweite Tag des Wochenkurses, er ist aber überzeugt: „Wir kriegen hier, was wir brauchen.“ Neu gelernt hat er „das mit der Bevölkerung: Daß die klauen könnten, das habe ich vorher so nicht gesehen“. Für ihn steht außer Diskussion: „Der Zweck der Mission, der ist nichts Schlechtes.“ Nach kurzem Zögern sagt er noch, „zu einem geringen Prozentsatz“ treibe ihn Abenteuerlust. Und daß die „finanziellen Aspekte auch eine Rolle“ bei seiner Entscheidung gespielt haben. „Diese Aspekte“: Das sind täglich 130 Mark Zulage – steuerfrei.
Für die insgesamt 700 Soldaten, die als Ausbilder, Statisten oder Versorger ihre Kameraden trainieren, gibt es keine Extras. Sie müssen sich, wie die Wegelagerer am illegalen Checkpoint, mit der Freude an kleinen Bösheiten begnügen: Den Feind im Training ein wenig vorzuführen.
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