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„4.-Mai-Bewegung“ - Protest mit Tradition

Vor 70 Jahren begann Chinas erste kulturelle Revolution / Protest der Studenten heute soll daran anknüpfen  ■  Von Jürgen Kremb

Berlin (taz) - „Gebt uns Qingdao zurück“, brüllten junge Leute vor auf den Tag genau 70 Jahren auf dem „Platz des himmlischen Friedens“. Schriftzeichen auf Spruchbändern forderten: „Verweigert die Unterzeichnung des Versailler Vertrages!“ Gut 10.000 Studenten und OberschülerInnen der chinesischen Hauptstadt Peking waren zusammengeströmt. Eine der größten Demonstrationen Intellektueller seit Gründung der chinesischen Republik durch Sun Yatsen im Jahre 1911.

Seit Tagen hatten sie schon aufgeregt in kleinen Gruppen gegen den Ausverkauf Chinas an das verfeindete Japan debattiert. Grund ihrer Empörung war das Schlußdokument des Versailler Vertrages, des Friedensvertrages nach dem Ersten Weltkrieg. Obwohl China sich in dem Konflikt neutral erklärt hatte, ging der „kranke Mann Asiens“ als Verlierer aus der Schlacht hervor. Japan, das sich im 19.Jahrhundert auch an der Aufteilung des Kaiserreichs durch europäische Mächte beteiligt hatte, gelüstete es nach einem kräftigen Zuschlag. Da Tokio Deutschland den Krieg erklärt hatte, war im fernen Frankreich trotz des Widerstands chinesischer Diplomaten Japan das ehemalige deutsche Schutzgebiet Jiaozhou sowie die Kolonialrechte auf die Provinz Shandong zugesprochen worden. Schon 1915 waren die Söhne Nippons dort einmarschiert und hatten sich so Einfluß auf die chinesische Politik gesichert.

Als die Westmächte dies mit dem Versailler Vertrag ausdrücklich billigten, war die Geduld der chinesischen Intellektuellen erschöpft. An jenem schönen Sonntag morgen im Mai zogen sie also zuerst zum Botschaftsviertel, um einen Protestbrief an die Westmächte zu übergeben. Doch trafen sie niemanden an. Anschließend wurde das Haus des Verkehrsministers Cao Ruilin gestürmt und in Brand gesetzt. Ihn machten die Studenten für den Ausverkauf der chinesischen Interessen verantwortlich. Die Polizei griff erst beim Abzug der Studenten ein und nahm 32 Personen fest. Noch in der folgenden Nacht wurde ein Universitätsstreik ausgerufen. Wenige Tage später sprang der Funke auf das Bürgertum über.

In Shanghai kam es im Juni zu den ersten Streiks der chinesischen Arbeiterbewegung. Die Regierung sah sich unter dem Druck der Proteste schließlich genötigt, den Versailler Vertrag nicht zu unterschreiben. Der Verkehrminister wurde entlassen, die Studenten freigelassen. 1922 ging Shandong an China zurück.

Was als „Zwischenfall vom 4.Mai“ in die chinesische Geschichte einging, wirkt weit über die Ereignisse dieses Tages hinaus. Mit der Überschrift „4.-Mai-Bewegung“ wird heute eine ganze Epoche benannt. Sie begann 1915 mit der Gründung der Zeitung 'Neue Jugend‘, die bald zum Sprachrohr der geistigen Führer der Bewegung wurde, und endet 1921 mit dem Entstehen der Kommunistischen Partei Chinas. Die „4.-Mai -Bewegung“ war die erste kulturelle Revolution Chinas.

Der Gründer der Zeitschrift 'Chen Duxiu‘ rief die Jugend dazu auf: „Zerstört das konfuzianische Denken, die alte Ethik, die alte Kunst, die alten Religionen, die alte Literatur und die alten Formen der Politik!“ Die Traditionalisten betrachteten den Konfuzianismus als das Wesen der Nation und wollten nur die Technik aus dem Westen adaptieren. Doch für die jungen Studenten, von denen viele aus dem Ausland zurückkamen und mittellos in den Straßen dahinvegetierten, war die alte Ideologie das Instrument der Herrschenden und Werkzeug eines zweitausend Jahre währenden Despotismus. Der Konfuzianismus verweigerte ihnen die Freiheit des Individuums. Die 'Neue Jugend‘ setzte sich ausdrücklich für die Gleichberechtigung der Frau in der patriarchalen chinesischen Gesellschaft ein. Die zentrale Forderung der Bewegung lautete: „Demokratie und Wissenschaft“. „Zerschlagt den Laden des Konfuzius“, hatten sie sich auf die Fahnen geschrieben.

In der Literatur sollte das klassische Chinesisch, das nur von wenigen konfuzianisch gebildeten Gelehrten und Beamten beherrscht wurde, dem Baihua, der Umgangssprache, Platz machen.

Zum Zentrum der Bewegung avancierte, wie auch in diesen Tagen wieder, die Pekinger Universität. Der Leiter der Universitätsbibliothek, Li Dazhao (1889-1927), gründete 1918 den ersten marxistischen Studienzirkel. Die Hilfskraft der Uni-Bibliothek trat erstmals in diesen Jahren öffentlich hervor, als er in der Stadt Changsha „Die Studiengesellschaft des neuen Bürgers“ aus der Taufe hob. Es war Mao Zedong. Li Dazhao hatte schon in der Oktoberrevolution in Rußland ein Vorbild für sein verarmtes und rückständiges Land gesehen.

Spätestens mit der Gründung der KPCh im Jahre 1921 durch Li Dazhao und den Herausgeber der 'Neuen Jugend‘, Chen Duxiu, war die „4.-Mai-Bewegung“ zum entscheidenden Meilenstein für die weitere Entwicklung des neuen Chinas geworden. Die Forderungen vom 4.Mai 1919 sind auch heute im sozialistischen China nicht erfüllt, meinen die Studenten, die in den letzten Wochen in Peking auf die Straße gingen. „Die '4.-Mai-Bewegung‘ ist noch nicht vollendet“, sagte dieser Tage einer von ihnen.

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