31. Todestag von Amadeu Antonio: „Das ist Vergangenheit“
Augusto Jone Munjunga kam wie Amadeu Antonio als Vertragsarbeiter in die DDR. Heute leitet er den Kulturverein Palanca. Er erzählt, wie es dazu kam.
taz: Herr Munjunga, Sie waren nicht gerade begeistert von unserer Interviewanfrage, richtig?
Augusto Jone Munjunga: Was heißt begeistert? Man hat zu viel zu tun. Zu dieser Jahreszeit häufen sich die Journalistenanfragen, je näher der Todestag von Amadeu Antonio rückt. Sonst interessiert sich kaum jemand dafür, was unser Verein macht.
Amadeu Antonio wurde in Eberswalde von Neonazis zusammengeschlagen und ist danach nicht mehr aus dem Koma erwacht. Am 6. Dezember jährt sich sein Todestag zum 31. Mal.
Ja. Wir waren als Vertragsarbeiter nach Eberswalde gekommen, und hier ist unser Kollege gestorben, ohne Grund. Dieses schreckliche Ereignis hat dazu geführt, dass wir 1994 den afrikanischen Kulturverein Palanca gegründet haben, als Treffpunkt für uns und damit unsere Geschichte nicht vergessen wird.
Amadeu Antonio war 27 Jahre, als er als er 1987 zusammen mit 100 Vertragsarbeitern aus Angola nach Eberswalde kam. Am 25. November 1990 wurde er auf dem Heimweg von Skinheads umringt und ins Koma getreten. Am 6. Dezember erlag der 27-Jährige seinen Verletzungen.
Augusto Jone Munjunga kam als 22-Jähriger ebenfalls nach Eberswalde. Er ist Mitbegründer und Vorsitzender des afrikanischen Kulturvereins Palanca.
Am Montag, dem 31. Todestag von Antonio, findet um 17 Uhr eine Gedenkveranstaltung online auf Zoom und im Stream auf Youtube und Facebook statt. Botschaften werden wie im Vorjahr auf einer digitalen Gedenkwand gezeigt, die auf der Internetseite www.light-me-amadeu.org eingerichtet ist, der Hashtag lautet #amadeuantonio
Spendenkonto Afrikanischer Kulturverein Palanca e. V.
IBAN: DE62120700240245955000
BIC: DEUTDEDB160
Sie sind der Vorsitzende von Palanca. Was genau macht der Verein?
Am Anfang hatten wir viele Projekte mit Kindern und an Schulen. Wir haben über Rassismus gesprochen, zusammen gekocht. Wir hatten eine Band, eine Tanzgruppe, die Afro-Sterne. Und wir haben hier auf dem Industriegelände am Wochenende Unterhaltung und Musik angeboten. Das war immer voll. Die jungen Leute hier hatten nicht viel, wohin sie gehen können. Die Punks haben Musikbands reingebracht.
Und heute?
Wir machen neue Projekte. Seit 2015 betreuen wir in Eberswalde ein Wohnprojekt mit Flüchtlingen. Ich bin der Wohnprojektkoordinator und mache alles. Palanca betreut neun im Stadtraum verteilte Wohnungen. Wir helfen bei Ämter- und Schulangelegenheiten und haben ein Frauen-Empowerment-Projekt.
Was heißt das?
Wir schaffen zunächst einen Raum für die Frauen. Sie können sich hier treffen, kochen, tanzen. Und wir machen politische Bildung mit den Flüchtlingen. Wir fahren mit der Bahn nach Berlin, gehen in den Bundestag, ins Museum oder den Zoo.
Über diese Arbeit mit Flüchtlingen ist wenig bekannt.
In den Berichten über uns geht es geht immer nur um die Aufarbeitung des Rassismus. Aber wir wünschen uns, dass man unsere Entwicklung wahrnimmt. Wir möchten nicht nur auf den Rassismus festgenagelt werden.
Woher kommen die Geflüchteten, um die sich Palanca kümmert?
Aus afrikanischen Ländern. Die Syrer wollen in Eberswalde einen eigenen Verein gründen. Schon unsere afrikanische Community besteht aus verschiedenen Kulturen. Und ich weiß aus Erfahrung: Sie unter einen Hut zu bringen ist nicht leicht. Inzwischen sind das mehr 200 Leute: Somalis, Eritreer, Kameruner, Kenianer, Angolaner. Einige waren früher, so wie ich, in der DDR Vertragsarbeiter und sind hier geblieben.
Sie sind 1987 in die DDR gekommen. Wie war das damals eigentlich genau?
Unsere Gruppe war die zweite Vertragsarbeitergruppe aus Angola. Wir waren etwa 100 Leute. Ich erinnere mich noch genau an die Ankunft am Flughafen Schönefeld. Uns wurden sofort die Pässe abgenommen, die haben wir nicht mehr gesehen.
Einfach weg?
Ja. Als wir in unserem Wohnheim in Eberswalde ankamen, wurden als Erstes Fotos von uns gemacht. Am nächsten Tag um 5 Uhr morgens aufstehen und dann schnell, schnell, dass du um 6 Uhr an der Bushaltestelle stehst. Und dann kommst du in den Betrieb, und ein Geruch nach Tier empfängt dich. Du hörst Schreie von den Tieren, die geschlachtet werden, und denkst nur: oh, oh, oh. Und wir gucken uns an und denken, ist das der Betrieb für die Ausbildung, die wir erhalten?
Sie waren dem Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde zugeteilt.
Ja, in der Produktion. Wir gehen also in den Betrieb rein, und sie sagen, das ist euer Arbeitsplatz für vier Jahre. Vier Jahre? Was sollen wir denn hier machen? Als wir gefragt haben, ob das ein Missverständnis ist, hieß es: Nein, das ist euer Betrieb.
Was hatten Sie erwartet?
Wir haben gedacht, dass wir weiterqualifiziert werden. Wir sind davon ausgegangen, dass wir, wenn wir zurück nach Angola kommen, befördert werden.
Dass Sie nach dem Auslandsaufenthalt Karriere machen?
Ja. Auf unseren Papieren stand „zur Qualifikation“. Wir haben uns das so schön vorgestellt. Ich war ja bereits studierter Finanzkaufmann. Ich habe mir gedacht, okay, wenn ich in der DDR bin, mache ich noch eine Ausbildung und kann damit dann später in Richtung Ökonomie gehen.
Haben Sie denn nicht protestiert?
Ja, aber dann hieß es, das müssten wir mit der angolanischen Botschaft klären. Der Botschafter hat gesagt: „Du kannst ja zurückgehen nach Angola. Aber du weißt auch, dass du dort im Knast landest.“ Das war moderne Sklaverei. Später haben wir verstanden, dass wir Staatsschulden von Angola an die DDR abarbeiten müssen. Schulden für Medikamente, für Waffen, für alles Mögliche. Aber keiner hat uns das gesagt.
Wie waren die Arbeitsbedingungen in dem Betrieb?
Wir haben gearbeitet wie Roboter. Ich war in einer Wurstkammer. Es war eine sehr alte, dunkle Kammer, der Boden war steinhart. Alles klebte. Mit Wasser, das über 90 Grad heiß war, musste man den Boden sauber machen. Dazu gab es ein Produkt, das nicht an die Haut kommen durfte. Du hast keine Maske auf, du stehst im vollen Dampf. Das war sehr gefährlich.
Amadeu Antonio war Ihr Kollege?
Ja, wir lebten zusammen im Wohnheim, abgetrennt von der einheimischen Bevölkerung.
Fühlten Sie sich isoliert?
Ich fühlte mich nicht wirklich schlecht. Wir waren ja jung.
Es war also nicht alles nur schlimm?
Nein. Wir hatten im Kopf, wir sind hier für eine bestimmte Zeit und werden wieder zurückgehen und vielleicht auch studieren. Was es damals nicht gab, war der offene Rassismus. Niemand hat uns angegriffen. Und wir Latinos untereinander hatten wirklich großen Spaß. Die Deutschen wollten ja ohnehin nichts von uns wissen.
Latinos?
Ja, ich meine, wir sprechen portugiesisch. Und mit den Kubanern haben wir uns gut verstanden, auch was die Musik betrifft. Die Kubaner haben Angola viel geholfen. Kubaner, sagen wir, sind Brüder. Erst als wir merkten, dass nichts für unsere Qualifikation getan wird, nur Arbeit, Arbeit, Arbeit, haben wir die Hoffnung verloren. Aber das ist Vergangenheit. Man muss sie vergessen, sonst bekommt man Kopfschmerzen.
Hatten Sie auch Frauen kennengelernt?
Die Gaststätte Mitropa war unser Treffpunkt. Dorthin kamen auch viele Frauen aus Eberswalde und Umgebung. Das waren nicht immer feste Beziehungen.
Was hat die Frauen in die Gaststätte geführt?
Die Frauen hatten kein gutes Leben. Sie waren meistens arbeitslos, und Arbeitslosigkeit war in der DDR offiziell verboten. Sie wussten, Mitropa ist der Treffpunkt für Ausländer. Und wenn sie dort etwas essen oder trinken, würden die Ausländer das vielleicht bezahlen.
Amadeu Antonio war das erste rassistische Todesopfer nach der Wende. Er wurde von Skinheads erschlagen. Hatten Sie auch Angst um Ihr Leben?
Ja, ich hätte in Eberswalde der zweite Amadeu werden können, weil ich engagiert war. Es war hier wirklich schlimm, als die Mauer fiel. Wir hatten gehört, dass sich Schlägertrupps von Rostock auf den Weg machen. Die Skinheads wussten, wo sie uns finden. Die kannten die Adressen der Privatwohnungen, in denen wir uns aufgehalten haben. Sie haben die Straßen blockiert und die Türen. Wir mussten aus den Fenstern springen. Da gab es großen Stress.
Und niemand hat geholfen?
Doch. Die antirassistische Initiative in Berlin Kreuzberg war wirklich eine große Hilfe. Manche Leute sind auch aus England und aus Frankreich gekommen, um uns zu unterstützen. Ich wurde gewarnt, es wäre besser, aus Eberswalde zu verschwinden. Die antirassistische Initiative hat mich nachts zu Hause abgeholt und nach Stuttgart gebracht.
Aber jetzt leben Sie in Berlin und arbeiten in Eberswalde?
Ja. Ich habe in Berlin eine kleine Wohnung. Berlin war für mich damals Freiheit, multikulti und offen. Anfang der 2000er Jahre war der Kontrast zu Eberswalde sehr stark. Das war hier eine No-go-Area.
Auf das Vereinshaus wurde ein Brandanschlag verübt.
Ja, das war im März 2000. Ich habe dann öffentlich kritisiert, dass die Stadt so wenig macht gegen ihr schlechtes Image. Die Stadt hat reagiert und finanziert uns seit 2011 die Miete hier auf dem alten Industriegelände, dem Rofin Gewerbepark.
Wo fühlen Sie sich heute mehr zu Hause: in Berlin oder Eberswalde?
Ich bin nach Eberswalde zurückgekommen. So fühle ich es. Weil hier meine Freundin, sie kommt aus Kamerun, und unser gemeinsames Kind lebt. Und ich arbeite hier. Aber Eberswalde ist auch anders geworden. Es gibt sie noch, die alte Verschlossenheit, aber es sind sehr viel neue Leute dazugekommen. Allein hier, in unserer Umgebung im Rofin Park, leben und arbeiten viele Kreuzberger. Und dann haben wir die Fachhochschule, und manche Studenten bleiben ganz hier. Und viele Leute, denen Berlin zu teuer wird, ziehen hierher. Das hat Eberswalde sehr gutgetan.
In dem Film „Baseballschlägerjahre“, der im Herbst 2020 in der ARD ausgestrahlt wurde, werden Sie und ein angolanischer Freund über die Zeit, als Amadeu Antonio getötet wurde, befragt. Ihr Freund sagt, er habe nachts immer noch Angst, auf die Straße zu gehen. Sie auch?
Ich werde heute nicht mehr schief angeschaut, das gibt es kaum noch. Aber nachts allein auf der Straße habe ich auch Angst.
Und in Berlin?
Es kommt drauf an, wo. Zwischen Lichtenberg und Marzahn möchte ich nachts auch nicht allein gehen.
Wie oft sind Sie im Vereinshaus?
Fast jeden Tag, ich möchte dass das Palanca lebt. Die Leute kommen spontan vorbei. Wir haben ein Jahresprogramm gemacht, wo die jeweilige Community ihre Festtage einträgt, es gibt dann Feiern.
Wollen Sie auch wieder offene Musikveranstaltungen machen wie zu Anfangszeiten?
Ganz weit weg ist die Idee nicht, aber wir haben Angst vor Auseinandersetzungen, auch weil nun viele Muslime gekommen sind. Disco ist nicht so deren Sache. Außerdem hören Eriträer und Somalier eine ganz andere Musik als wir aus Kamerun oder Angola.
Würden Sie sagen, Ihre eigene Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte?
Kürzlich habe ich eine Auszeichnung für Mut und Verständigung bekommen. Ich versuche meine Sache gut zu machen. Aber es ist wie beim Fußball: Du kannst selbst schlecht beurteilen, ob du gut spielst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin