3. Tag Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt: Nostalgischer Blick
Auch ein effektvoller Auftritt gehört in Klagenfurt zum Kalkül. Am letzten Vorlestag dominieren Kindheitsgeschichten. Von jungen Hunden, frühen Vögeln und Hühnern ohne Köpfe.
Sehr viele Geschichten über Kinder und Jugendliche hat man hier in Klagenfurt gehört, aber es sind doch sehr unterschiedliche Geschichten gewesen – von der Böse-Mädchen-Erzählung „Willste abhauen“ von Lisa Kränzler über die locker-luftige Abschiedsgeschichte von der Kindheit „Junge Hunde“ von Cornelia Travnicek bis zu Stefan Mosters Rückerinnerung an einen vollkommen danebengehenden Trampurlaub als Abiturient „Der Hund von Saloniki“.
An diesem Samstag, dem dritten und letzten Vorlesetag beim Bachmannpreis – Sonntag um 11 Uhr werden dann die Preise vergeben – sind noch einige Kindheitsgeschichten mehr dazugekommen. Aber wieder erfüllen die Kindheitsperspektiven ganz unterschiedliche Funktionen.
Der 1979 in Polen geborene und 1989 nach Deutschland gezogene Autor Matthias Nawrat will mit ihr eine düstere Gesellschaftsbeschreibung in den Griff bekommen. Aus der Perspektive eines jugendlichen Mädchens erzählt er eine Familiengeschichte, freilich einer besonderen Familie: In den Müllhalden und stillgelegten Fabriken des Schwarzwalds sammelt sie die wiederverwertbaren Teile aus dem Computerschrott heraus, so wie man es von Sozialreportagen aus Mumbai oder Afrika kennt.
Das Mädchen redet sich das Familienleben schön, als sei es normal, nicht zur Schule zu gehen und vom Vater zum Herausreißen von Kabeln und Platinen erzogen zu werden. Die Jugendlichenperspektive ermöglicht einen zugleich distanzierten wie nichtwertenden Blick auf diese Außenseitersituation.
Bei Leopold Federmair, 1957 geboren und als Romanautor, Essayist und Übersetzer der arrivierteste Autor im diesjährigen Bewerberfeld, ermöglicht das Pubertätsthema dagegen einen gebrochen nostalgischen Blick auf das mögliche Anderssein und Rebellieren, das im Vorfeld des Erwachsenwerdens schlummert.
Eine Frau schildert eine lange zurückliegende Begegnung mit einem 16-Jährigen, als man noch nächtelang auf dem Bett lag und Bob Dylan hörte und der Traum von einem Banküberfall durchaus noch etwas von einem immerhin am Horizont möglichen Projekt hatte.
Und bei der 1976 geborenen Autorin Isabella Feimer haben Kindheits- und Pubertätserinnerungen wieder eine vollkommen andere Funktion: Eine Frau saugt in ihrem Text „Abgetrennt“ die Kindheitserzählungen eines Mannes erst begierig auf, es ist ihre Form, ein liebendes Gemeinsames mit ihm herzustellen, um sich dann, von ihm inzwischen verlassen, gerade auch von diesen Erinnerungen wieder zu emanzipieren.
Schade allerdings, dass diese Kindheitserinnerungen vom Bauernhof – Hühner, die weiterlaufen, nachdem man ihnen den Kopf abgeschlagen hat, Jungs, die von Dächern springen und sich ein Bein brechen – ziemlich abgedroschen daherkommen.
Einen Trend zur Kindheitsbeschreibung bei solch verschiedenen Arten des Einsatzes dieses Themas auszumachen, wie es manche Beobachter hier in Klagenfurt, wo ja immer literarische Trends gesucht werden, trägt dann nicht weit; immerhin: ein „dicker roter Faden“, so der Juror Hubert Winkels, in diese Richtung ist vorhanden.
Und auf jeden Fall kann man festhalten, dass in den vergangenen drei Tagen das Leben von Erwachsenen allein für sich auffällig selten literarisch erkundet worden ist – vielleicht ist es schlicht zu kompliziert geworden, um es in den 30 Minuten Lesezeit, die jedem Autor zur Verfügung stehen, in den Griff zu bekommen.
Aus dem Kindheitsthema aus brach an diesem letzten Tag nur Matthias Senkel, 1977 geboren und in diesem Frühjahr mit seinem Roman „Frühe Vögel“ breit und sehr wohlwollend von der Kritik besprochen. Senkel las eine in ihrem Erfindungsreichtum und ihrer wunderbaren Absurdität kaum zu überbietende Literaturbetriebssatire, die in einer „Kuranstalt für Schriftsteller in Schaffensnöten“ spielt.
Der wirklich tollste Einfall des ganzen Wettbewerbs findet sich darin: Ein Autor schreibt darin nämlich ein Buch namens „Fragments of the Master Plan“. Weltklasse, wie in diesem Titel die gesamte Literatursehnsucht, in einem Buch die Welt zu erklären, und die Unmöglichkeit dessen enthalten ist.
Im Vorfeld war Matthias Senkel als einer der Favoriten auf den Bachmannpreis gehandelt worden, aber seine Lesung kam dann letztlich nicht so gut an. Was, meine These, an einer ganz einfachen Fehlkalkulation lag: Matthias Senkel hat seine Geschichte sehr langsam vorgelesen, wohl um den Zuhörenden die Möglichkeit zu geben, ihren vielen Ebenen und Sprüngen folgen zu können. Wahrscheinlich hätte er sie aber gerade sehr schnell vorlesen sollen, dann hätte er einen vielleicht mit seinen Pointen schier weggepustet. Auch solche Kalkulationen, welcher Auftritt der effektvollste ist, gehören in Klagenfurt dazu. Und auch da kann man sich schrecklich verhauen.
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