piwik no script img

252 Jahre Erdbeben von LissabonDie Erfindung der Katastrophe

Am 1. November 1755 bebte in Lissabon die Erde. Doch zur "Katastrophe" wurde das Ereignis erst zwei Jahre später - in einem Bild des Stechers Jacques Philippe Le Bas

Lissabon: Im Vordergrund die Trümmer, im Hintergrund die Utopie - die Katastrophe als Chance.

taz: Herr Trempler, das Bild des Franzosen Jacques Philippe Le Bas aus dem Jahr 1757 - zwei Jahre nach dem Erdbeben von Lissabon - zeigt die erste Katastrophe der Geschichte?

Jörg Trempler: Ich glaube, dass die Ereignisse von Lissabon am 1. November 1755 ihre Bedeutung mit der Stichfolge von Le Bas erlangten. Es gab zwar auch andere große Erdbeben, aber die haben nicht diesen starken Stellenwert in der europäischen Kulturgeschichte gewonnen. Ein Grund dafür ist, dass Lissabon als Katastrophe empfunden wurde. Dass es wiederum als Katastrophe empfunden wurde, hat seinen Grund auch in diesen Stichen.

Bild: privat

Dr. Jörg Trempler (37) ist seit 1. November als Stipendiat am Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Florenz. Er schreibt an seiner Habilitation zum Thema "Katastrophen. Bild und Bedeutung".

EIN BILD VOM BEBEN

Heute vor 252 Jahren wurde Lissabon von einem Erdbeben heimgesucht. Was die Erdstöße nicht zum Einsturz brachten, legte der große Brand in Schutt, der eine Woche lang wütete. Der französische Kupferstecher Jacques Philippe Le Bas (1707-1783) kreierte im Jahr 1757 eine Folge von sechs Stichen, die in Europa große Verbreitung fanden. Alle sechs Bilder zeigen Ruinen. Das erste Bild zeigt eine neue Architektur, die zu dem Zeitpunkt noch nicht da war - es ist ein Zukunftsbild; die anderen dokumentieren den Status zwei Jahre nach dem Erdbeben, und das letzte die Vergangenheit, direkt nach der Verwüstung.

Wie das?

Das zeigt sich besonders stark vor dem Hintergrund anderer zeitgenössischer Bilder. Nach einem Ereignis kursieren Flugblätter, das ist gang und gäbe. So war das beim Ausbruch des Vesuv 1631 oder dem großen Brand von London 1666. Die Erklärungen zu diesen Flugblättern sind aufgebaut wie Zeitungsartikel. Vorne steht ein Block mit den harten Fakten: Was ist zerstört, wie viele Leute sind umgekommen? Dann gibt es noch die ausführlichere Beschreibung, und am Schluss steht das Strafgericht Gottes.

Was sieht man auf diesen Flugblättern. Und wie unterscheiden sie sich von Le Bas?

In einem Blick von schräg oben auf die Stadt ist meistens die Zerstörung dargestellt und im Vordergrund kleine Figuren, die das Ereignis beklagen. Worin unser Bild eine Zäsur darstellt, das ist die visionäre Architektur im Hintergrund der Ruinen, die ich vorher auf keinem Beispiel finde. Dadurch wird der Zukunftscharakter deutlich herausgestellt. Wenn man diese Architektur genau betrachtet, dann ist sie neu, zeigt, dass die Stadt nicht so wieder aufgebaut wird, wie sie einstmals stand, sondern moderner. Dadurch ist erstmals das Buchstäbliche einer Katastrophe dargestellt, der Wendepunkt.

Die Katastrophe von Lissabon soll die Wende zu einer neuen Stadt sein? War die Katastrophe nicht das Erdbeben?

Das ist genau der Punkt, an dem man umdenken muss. Der allgemeine Sprachgebrauch von "Katastrophe" ist heute: Erstens, es ist ein Ereignis, und zweitens, es ist etwas Negatives. So ist es in der Geschichte nicht. Es gab zwar immer schon Ereignisse, die wir heute als Katastrophen bezeichnen würden, sie wurden aber erst ab dem 18. Jahrhundert und ungefähr ab der Zeit, in der unsere Stichfolge entstanden ist, als Katastrophen bezeichnet. Diese frühe Benennung des 18. Jahrhunderts ist eine ganz andere als die heutige, weil sie sich stark an die Theatersprache anlehnt, wo das Wort herkommt und von der Antike bis ins 18. Jahrhundert eine Art Dornröschenschlaf gehalten hat.

Was bedeutet die Katastrophe in der Theatersprache?

Zunächst "Wendepunkt", ganz buchstäblich in der wörtlichen Übersetzung (von gr. kata-stréphein). Die Handlung muss kippen. Dieser Wendepunkt kann sowohl zum Guten als auch zum Schlechten führen. Der grundsätzlich negative Aspekt, den wir jetzt in der Alltagssprache haben, fällt weg. Man sagt "Katastrophe" für historische Ereignisse, um den Wendepunkt, das Vorher und Nachher in aller Deutlichkeit zu trennen - um eine fortschreitende, eine teleologische Geschichte zu schreiben.

Le Bas hat also einem schlimmen Ereignis einen dramaturgischen Dreh gegeben?

Genau. Man kann sagen, am 1. November 1755 war das Ereignis, aber erst zwei Jahre später ist das Ereignis als Katastrophe interpretiert worden. Da ist aus dem Erdbeben von Lissabon die Katastrophe von Lissabon geworden. Ich will nicht so weit gehen, dass dies nur an dieser Stichfolge liegt, aber ein Teil dieser Mutation vom Erdbeben zur Katastrophe wurde durch die Bilder von Le Bas erzeugt.

Hat diese Darstellungsweise Schule gemacht?

Nicht unmittelbar, obwohl mir das als Bildforscher anders lieber wäre. Es gibt da zum Beispiel einen Maler, Johann Georg Trautmann (1713-1769), der pittoreske Stadtbrände gemalt hat. Dreißig brennende Städte mindestens - vor und nach 1755. Da ist keine Zäsur zu sehen. Die alte Herangehensweise ist eine sehr starke, sehr tradierte, die nicht durch die Stichfolge von Le Bas ein für alle Mal aufgehoben wurde. Die Übergänge sind da eher fließend. Gut dreißig Jahre später aber, mit der Französischen Revolution, ist die Umwälzungs-Thematik im Sinne der Katastrophe dann gang und gäbe.

Revolution als Katastrophe?

Ja, schon rein sprachlich. "Katastrophe" im Wortsinn und "Revolution" (lat. re-volvere, zurückdrehen) sind verwandt in dem Drehmoment, das sie bezeichnen. Die Französische Revolution wird in den Berichten eigentlich sofort mit Naturkatastrophen verglichen und als universelles Erdbeben dargestellt.

Gibt es da Abbildungen, die dieser Sichtweise entsprechen?

Der Schweizer Historienmaler Jean-Pierre Saint-Ours (1752-1809) etwa hat in einer Folge anderer Historienbilder ein Erdbeben dargestellt. Aber das Erdbeben ist kein bestimmtes, sondern hat eine allgemeine historische Staffage mit griechischen Tempeln im Hintergrund. Im Vordergrund geht eine Familie von links nach rechts aus dem Bild heraus. Sie verlässt den Ort des Erdbebens und blickt gleichzeitig nach hinten. Vom Typus her kann man das zurückverfolgen bis zu Darstellungen von der Vertreibung aus dem Paradies: nach vorne schreiten, nach hinten blicken. Und sie sind in Blau, Weiß und Rot gekleidet, den Farben der französischen Trikolore. Damit ist die Parallele gegeben zwischen dem Erdbeben, der Vertreibung aus dem Paradies und der Französischen Revolution. Der Unterschied zwischen der Französischen Revolution und einem Erdbeben ist doch, dass es verschiedene Verursacher hat: Einmal sind es Menschen, und einmal ist es die Natur.

Spielt der Unterschied eine Rolle?

Historisch gesehen ist "Naturkatastrophe" ein jüngeres Wort. Im 18. Jahrhundert wurden diese ganzen Natur-Komposita geprägt: Natursehnsucht, Naturempfinden, Naturschauspiel, und darüber dann auch Naturkatastrophe. Die Frage, ob man bei von Menschen gemachten Ereignissen überhaupt von Katastrophen sprechen kann, war zu der Zeit, als der Begriff von der Theatersprache auf die Allgemeinsprache ging, überhaupt kein Thema. Da waren beides Katastrophen.

Was ist denn dann das Merkmal einer Katastrophe?

Man kann sie nicht messen. Rückversicherer tun das, wenn sie sagen: soundso viel Tote, soundso hoher Schaden. Aber das ist eine reine Setzung. Eine materielle Definition der Katastrophe wird wahrscheinlich nie gelingen. Deshalb sage ich auch, Katastrophe ist kein Ereignis, sondern dessen Interpretation. Sie ist ein Punkt auf dem Zeitstrahl. Ohne zeitliche Entwicklung ist keine Katastrophe möglich. Das ist das Besondere. Und das schält sich erst ab dem 18. Jahrhundert in der allgemeinen Kulturgeschichte Europas heraus. Das Nächste ist: Wie stelle ich das dar? Da bieten sich die Bilder an, weil sie so tun, als würden sie das Ereignis genau darstellen. Tatsächlich interpretieren sie es aber. So ist das auch bei unserem Stich: Der tut so, als würde er die Zustände in Lissabon illustrieren, in Wahrheit aber weist er über sie hinaus.

Gibt es Parallelen zwischen heutigen Katastrophen-Bildern und dem von Le Bas?

Heute ist alles durch die Livebilder des Fernsehens direkt und unmittelbar, das ist ein großer Unterschied. Dennoch gibt es eine Parallele. Dass auch diese Bilder keine Illustration sind, zeigt sich zum Beispiel in der bislang prominentesten Katastrophe des 21. Jahrhunderts, in den Fernsehbildern vom 11. September 2001. Das Ereignis - zwei Flugzeuge treffen die Türme des World Trade Centers und die Türme stürzen ein - kann ohne Bilder passieren. Aber dadurch, dass genau diese Bilder im Fernsehen übertragen wurden, ist das Ereignis ein anderes geworden. Man kann zwar Ereignis und Darstellung nicht mehr trennen; man muss aber in aller Deutlichkeit sagen, dass die Fernsehbilder kein bloßer Spiegel sind und wir nur wie durch ein Fernglas zugucken.

Soll das heißen, das Ereignis des 11. Septembers wäre vielleicht ein anderes, gäbe es andere Bilder davon?

Es ist ja ganz typisch, dass die Bilder immer wieder mit Spielfilmen verglichen werden. Das sagt erst mal eins: Wir haben ein Bild von Katastrophenfilmen im Kopf, wir wissen, wie so etwas aussehen muss, vermittelt durch das Kino. Jede Zeit hat ihre Sehgewohnheiten und einen bestimmten Stil, in den sich Bilder fügen müssen, um erfolgreich zu sein. Wenn Le Bas sein Bild für London 1666 gemacht hätte, also knapp 100 Jahre früher, hätte es möglicherweise nicht den Erfolg gehabt. 200 Jahre früher hätte es ganz bestimmt nicht den Erfolg gehabt. Da frage ich: Gilt das nicht auch für den 11. September? Vielleicht werden wir in 200 Jahren sagen, dass diese Katastrophe, auch wegen der Bilder, nur Anfang des 21. Jahrhunderts so bedeutungsvoll sein konnte.

INTERVIEW: SVEN BEHRISCH

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!