24-Stunden-Assistenz: Immer in Begleitung
Victoria Michel lebt selbstbestimmt mit der Hilfe von Assistentinnen, die sie unterstützen. Das Verhältnis zu ihnen ist „eine Art Zweckfreundschaft“.
„Ha, ha“, sagt Michel trocken, als wir in dieser Zeit videochatten. Sie kann nicht einmal eine Stunde ohne direkten Kontakt bleiben. Victoria Michel, 27 Jahre alt, lebt mit 24-Stunden-Assistenz. Weil ihr Körper gerade so viel Bewegung erlaubt, um zu sprechen, essen, ein Handy und den Elektro-Rollstuhl zu bedienen, braucht sie in allen Lebensbereichen und rund um die Uhr Unterstützung. Normalerweise von einer ihrer acht Assistentinnen. Quarantäne bedeutete für Victoria Michel: für zwei Wochen zurück zu ihren Eltern ziehen, um ihre Assistentinnen vor einer möglichen Ansteckung zu schützen. Ihr Fazit: „War nötig, ist aber nicht empfehlenswert.“
Erziehen, Zuhören, Pflegen – die einen nennen es Liebe, die anderen unbezahlte Arbeit. Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die sie übernehmen, selbst da, wo sie bezahlt wird. In unserem Schwerpunkt „Frauentag“ fragen wir pünktlich zum feministischen Kampftag: Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die das Kümmern revolutioniert?
Victoria Michels Geschichte ist eine Geschichte der Selbstbestimmtheit. Sie räumt auf mit dem Vorurteil, die Pflege aus Liebe wäre das Beste, was einem passieren kann. Es gibt nur ein paar tausend Menschen in Deutschland, die mit selbst organisierter 24-Stunden-Assistenz leben, bundesweite Statistiken dazu gibt es nicht. Einige mussten sich das Recht auf dieses selbstbestimmte Leben vor Gericht erstreiten. Der Weg zur 24-Stunden-Assistenz verlangt auch Menschen wie Victoria Michel einiges ab.
Es ist Mitte Februar, als ich Michel in ihrer Bochumer Wohnung persönlich treffe, seit ein paar Tagen ist sie wieder zu Hause. „Was für ein Rock!“, rutscht es mir fast als Erstes raus. Michel trägt zur schwarzen Strickjacke, den rot gefärbten Haaren und dem knallroten Lippenstift einen weiten Plisseerock in bunten Farben, die in der Sonne schillern. Er bedeckt ihre Beine und den halben Rollstuhl. Draußen zerrt der Wind an ihm. Der Rock ist wunderschön, aber vielleicht ein bisschen dünn für diese stürmischen Wintertage. Vielleicht hätten Michels Eltern ihn ihr nicht angezogen.
Kind sein
Zum Glück haben die Eltern erst das Kind bekommen und dann das Haus gebaut. 1994 wird Victoria Michel im Oberbergischen geboren. Nahe Gummersbach, in einem 200-Seelen-Dorf. Das Kind hat kaum Muskelspannung und würde nie mehr bekommen. Es wird nicht laufen und keine Treppen steigen. Ein Architekt, der selbst im Rollstuhl sitzt, plant das Haus barrierefrei.
Victoria Michel
„Das war natürlich ein Privileg“, sagt Michel. Und meint das Haus und dass die Eltern das Geld dafür haben und deren Kampfgeist, der noch oft vonnöten sein wird. Die ersten zweieinhalb Jahre tragen die Eltern das Kind herum. „So viel zur Selbstbestimmung“, sagt Michel. Mit zweieinhalb Jahren bekommt Michel den ersten Elektro-Rollstuhl. Mit einer winzigen Sitzschale und einem Hebel, der auch den Bewegungen von Michels Fingern gehorcht. „Andere lernten laufen, ich E-Rolli fahren“, erzählt sie. Der Beginn der Autonomie. „Mit vier Jahren habe ich dann beschlossen, dass ich nicht behindert bin.“
Michel besucht eine integrative Kindertagesstätte, in der integrativ bedeutet: Es gibt eine Gruppe für nichtbehinderte Kinder. Und eine für behinderte, in der Michel die Einzige ohne geistige Behinderung ist. „Das bedeutete zwei Jahre im Kreis fahren“, sagt sie. Das Klischee von Behinderung wird auch zu ihrem: „Das sind die, die irgendwann in einer Einrichtung verschwinden, wo sie stupide Teile zusammenstecken und den Rest des Tages an die Wand starren.“ Wenn das Behindertsein ist, „dann bin ich eben nicht behindert“, sagt sie.
Aber wie macht man das, wenn man gerade die Finger weit genug bewegen kann, um einen Strohhalm zu halten? „Stephen Hawking“, sagt Michel und meint: so schlau werden, wie es nur geht. Weil oftmals nur das in den Augen der andern zählt, wenn man im Rollstuhl sitzt.
Dass das der Weg sein musste, ist auch die Überzeugung der Eltern. Zweimal erstreiten sie einen Platz für ihre Tochter im Regelschulsystem. In der Grundschule im Nachbardorf geht es noch gut, „da kannten mich alle schon“. Im Gymnasium in Gummersbach erdrückt der Leistungsanspruch das kämpfende Kind. Die Jugendliche bekommt psychische Probleme.
„Ab 14 war es einfach nur Scheiße“, sagt Michel. Aber immerhin habe sie gelernt, sich effizient für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Auch beim Arbeitsamt. Als das zur Berufsberatung ins Gymnasium kommt, soll Victoria Michel – die das Abitur übrigens mit 1,9 abschließt – gar nicht beraten werden. „Sie sind ja eh behindert.“ Schließlich sprechen ihre Lehrer:innen einzeln vor, um die Berufsberatung zu überzeugen, dass Michel für ein Studium taugt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird Victoria Michels Körper jeden Tag von den Eltern bewegt, gewaschen, mit Nahrung versorgt, gecremt, bekleidet. Sie machen es gut, sie wollen das Beste für die einzige Tochter. Aber es ist ihr Leben und ihr Alltag, in den sie die Wünsche und Träume von Victoria Michel integrieren. Der Alltag ist ein Kompromiss, aber großartige Freiheiten kann er nicht bieten.
Als die erwachsene Victoria Michel vor Kurzem für die Quarantäne wieder zu Hause einzog, waren all die altbekannten Muster wieder da. „Ich bin inzwischen 27 Jahre alt und dann manchmal gefühlt wieder 5“, sagt Victoria Michel. Aus Liebe nehmen die Eltern jede Ansteckungsgefahr in Kauf. Aber am Ende sind beide Seiten, Michel und ihre Eltern, froh, als die Zeit der elterlichen Pflege wieder vorbei ist.
Damals, nach dem Abi, war der Schritt weg von den Eltern ein riesengroßer. Mit 19 zieht Michel aus dem barrierefreien Haus bei Gummersbach in ein Bochumer Studentenwohnheim. Hier beginnt ihr Leben mit Assistenz. „Und meine richtige Pubertät“, sagt sie. „Diese ganzen Fragen, wer bin ich eigentlich und wo will ich hin, soweit sich das überhaupt beantworten lässt. Ihr wisst schon, was ich meine, das war dann überhaupt erst möglich.“
Erwachsen werden
Victoria Michel braucht jemanden, der rund um die Uhr da ist. Weil sie sich verschlucken und dann sterben kann. Weil sie auf bestimmte Weise gelagert und geduscht werden muss. Weil jemand da sein muss, der ihr das Essen reicht, den Fernseher anmacht, sie in die Uni fährt oder ins Café, ihr den Schal umlegt und jede einzelne Tür öffnet, durch die sie fahren will. „Ich wusste selbst nicht, wie das funktionieren soll, schließlich haben sich meine Eltern das ganze Wissen 19 Jahre lang angeeignet.“ Die beiden Menschen, denen sie blind vertrauen konnte, die sie aus Liebe pflegten, waren nun anderthalb Autostunden entfernt. Dafür sollen Fremde übernehmen, die sich in 24-Stunden-Schichten abwechseln.
Doch bereits die Assistentin, die den ersten Dienst bei Victoria Michel antritt, ist ein Glücksgriff. Sie ist wie fast alle Assistent:innen keine ausgebildete Pflegekraft, aber sie fragt einfach die, die es am besten weiß, die Expertin für ihre Bedürfnisse: Victoria Michel selbst. „Das musste ich ja erst einmal begreifen, dass ich jetzt alles entscheiden kann.“
Für Michel beginnt die Zeit, in der sie lernt, höflich, aber bestimmt zu sagen, was sie will. „Am Anfang habe ich fünfmal überlegt, ob ich das jetzt wirklich verlangen kann.“ Es dauert, bis sie ihr Team so zusammenhat, dass es für sie passt.
Denn es gibt Bewerberinnen, „die bringen alle Klischees mit, die über behinderte Menschen und Assistenz existieren“, sagt Michel. Endlich einem armen behinderten Menschen helfen, einen Sinn in seinem Leben zu finden. Und dabei als Assistentin vor allem eine chillige Zeit haben. Immer wieder diese Idee von den „ziemlich besten Freunden“ – gespeist aus einem sehr erfolgreichen französischen Film, in dem ein junger Typ einem weitgehend bewegungsunfähigen Mann zeigt, wie man mal richtig Spaß hat. „Da könnte ich schreien“, sagt Victoria Michel. Sie lasse sich zwar gern mal mitreißen von der Idee einer Assistentin. „Mich muss aber niemand die ganze Zeit bespaßen, das kann ich schon alleine.“
Was ist es dann, diese Assistenz? Wie viel Fremdheit, wie viel Intimität? „Es bleibt eine Art Zweckfreundschaft“, sagt Victoria Michel. Ihre Assistentinnen wissen alles über sie, weil sie immer da sind. Und sie weiß viel über ihre Assistentinnen, weil ihr das wichtig ist. Wenn Michel plant, ins Kino zu gehen oder ins Konzert, zu Hause zu backen oder zu kochen, dann überlegt sie, mit welcher Assistentin das am meisten Spaß macht.
„Mit manchen könnte ich 24 Stunden durchquatschen“, sagt Michel. Mit denen, die lange da sind, ist es manchmal wie bei einem alten Ehepaar. „Dann ist es vielleicht auch Zeit, sich wieder zu trennen.“ Und wenn das Dienstverhältnis beendet ist, ist es beendet. „Da mache ich mir keine Illusionen.“
Die Assistentin
Acht Jahre nach ihrem Auszug sitzen wir an Michels Küchentisch. Zu dritt. Heute hat Alina Gerversmann Dienst. „Bringst du mir bitte etwas zu trinken und legst meine Hand etwas näher?“, sagt Victoria Michel. „Ist es so gut?“, fragt Gerversmann. Sie fragt viel.
Ob sie Victoria den Schal umlegen soll, bevor wir raus in Richtung Markt gehen. Ob sie ihr die Maske aufsetzen soll, als wir die volle Fußgängerzone erreichen. Ob sie das Portemonnaie rausnehmen darf, als Victoria am Gemüsestand Paprika und Kiwi kauft. Ob sie den Rock etwas unter die Seiten klemmen soll, weil er so im Wind flattert. Ob Victoria Angst um den knallroten Lippenstift hat, wenn sie an der Maske rückt. „Der wird’s überleben“, sagt Victoria Michel.
Alina Gerversmann ist 29 Jahre alt und seit vier Monaten eine von Michels Assistentinnen. Zuvor hat sie jahrelang immer wieder als Pflegehelferin in einem Behindertenheim gearbeitet. „Da waren wir ja eigentlich auch dafür da, den Willen der Bewohner umzusetzen“. Aber tatsächlich, und das sagt Gerversmann mit viel Resignation, habe sie nur dem System gedient. Einem System, in dem der Kostendruck dazu führe, „dass ich schon die intimsten Stellen einer Person gewaschen habe, bevor ich überhaupt ein Gespräch mit ihr führen konnte.“
Doch „jetzt bin ich hier, um Victoria ihr Leben zu ermöglichen“, sagt Gerversmann. Deshalb frage sie so viel. Gerversmann arbeitet in einer Vollzeitstelle in fünf bis sechs 24-Stunden-Diensten im Monat. Mit zwei kleinen Kindern zu Hause lässt sich auch das besser vereinbaren als die wechselnden Schichten in der Einrichtung.
Die Welt da draußen
„Meine Assistentinnen gehen mir seltenst auf den Sack“, sagt Victoria Michel, „die Welt da draußen schon.“ Einmal wollte sie einen guten Lippenstift in einer Parfümerie kaufen – so einen, der auch die Masken überlebt. „Diesen hätte ich gern“, sagte sie zu der Verkäuferin. „Sie weiß aber schon, dass der 25 Euro kostet?“, sagt die Verkäuferin zu der Assistentin. Es gibt viele solcher Begebenheiten.
Immer wieder die Situation, dass Menschen denken, die Assistentin wäre eine Verwandte. Dieser Blick, wenn Michel selbst auf eine Frage an die Assistentin antwortet: „Oh mein Gott, es kann sprechen“, erzählt sie.
Ein abgeklärter Humor liegt in den Worten der 27-Jährigen, die ihre Assistenz inzwischen im Arbeitgebermodell organisiert. Sie hat gelernt, ein Kleinunternehmen mit acht Angestellten zu führen. Nach ihrem Studium will sie als Lobbyistin für Menschen mit Behinderung arbeiten und ist entschlossen: „Ich will helfen, das System zu verändern“.
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