22. Oktober 1989: Berlin zuletzt
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Endlich komme ich dazu, die Zettel, Aufrufe, Erklärungen und Appelle, die ich in den letzten vierzehn Tagen zusammengesammelt habe, zu sortieren und gründlich zu lesen. Die wichtigste all dieser Flugschriften ist eine Loseblattsammlung namens telegraph, die seit dem 9. Oktober bei der Mahnwache vor der Gethsemane-Kirche verteilt wird. All diese Papiere sind ein bitter notwendiger Ausgleich zum restlichen Verlautbarungsjournalismus. Nur so ist der Überblick darüber zu behalten, was tatsächlich im Lande vorgeht.
Die Nachrichten kommen auf diese Art zwar mit zeitlichem Verzug in Umlauf, aber immerhin. Berliner neigen ohnehin dazu, ihre eigene Stadt wichtiger zu nehmen als den Rest des Landes. Gerade in diesen Tagen ist das besonders fatal. Ich habe nicht den Eindruck, als würden die Verhältnisse ausgerechnet in der Hauptstadt zum Tanzen gebracht. Im Gegenteil. Während in Leipzig „Bürgerforen“ zusammentreten, in Dresden so etwas wie ein Runder Tisch installiert ist und selbst in der vogtländischen Kleinstadt Plauen Tausende auf den Straßen sind, weht von Berlin aus der alte Geist ins Land. Hier herrscht Beharrung. Hier ist der Aufbruch eher untergründig zu spüren, als sichtbar zu sehen. Berlin hinkt hinterher. Um den Mut nicht zu verlieren, ist es aber wichtig, von all den anderen, die sich nach Kräften rühren, wenigstens zu erfahren. Mag sein, daß Leute, die – im Gegensatz zu mir – tatsächlich etwas unternehmen, diese Anspannung nicht so empfinden. Diejenigen, die beispielsweise in der Gethsemane-Kirche die Mahnwache durchführen, strahlen ungetrübte Zuversicht aus. Das tut wohl. Doch das andauernde Wechselbad der Gefühle zerrt an den Nerven. Wolfram Kempe
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