21. Oktober 1989: Schabowski schummelt
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Nur wenn die Herren auf die Straße gezwungen werden, ist Schluß mit den gesalbten Reden. Hier herrscht der rauhe Wind der Wirklichkeit.
Am Nachmittag bin ich – eher zufällig – in eine Demonstration vor der Volkskammer geraten. Etwa zweitausend Menschen bilden eine Kette vom Parlament bis zum Polizeipräsidium in der Keibelstraße, um so gegen die Übergriffe am 7./8. Oktober und für die Freilassung der Inhaftierten zu protestieren. Vorm Volkskammer- Eingang hat sich eine Menschenmenge angesammelt. Mittendrin stehen Schabowski und der Berliner Oberbürgermeister Krack. Sie versuchen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, besser gesagt: Antworten zu geben auf Fragen, die von allen Seiten auf sie niederprasseln. Die Debatten drehen sich um Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Aber da sehen die Funktionäre ganz schön alt aus. Die Situation im Lande erfülle ihn mit großer Sorge, sagt Schabowski. „Ja ja, Sorge um deinen Stuhl“, ruft einer. Größeres Gelächter.
Wer in einen friedlichen Umzug eingreift, ob mit Knüppeln oder mit vorgeschobener Diplomatie, gesteht seine Schwäche ein. Hier steht die Macht auf der Straße und macht sich lächerlich. Mir wird klar, daß Leute wie Schabowski, wenn sie von „Dialog“ sprechen, nur schummeln wollen. Wolfram Kempe
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