20 Jahre Mauerfall: Der kurze Herbst der Utopie
Im September 1989 gründet sich in der DDR das Neue Forum. Es möchte Debatten über Staat und Gesellschaft anregen - doch die Bürger wollen die schnelle Wiedervereinigung.
"Ich wünschte, wir hätten selbst aufräumen können", sagt Bärbel Bohley heute. Die 64-jährige Malerin ist eine der bekanntesten DDR-Oppositionellen - und sie wäre froh gewesen, wenn die DDR noch etwas länger bestanden hätte. Freilich als Demokratie, die zudem selbst mit ihren alten Eliten abrechnet und das Experiment eines neuen Weges wagt.
Am 10. September 1989 gründeten Bohley und 29 andere Oppositionelle das Neue Forum. "Im Herbst 1989 war klar: Die Zeit ist reif", sagt Bohley. Wenn jetzt nichts passiere, "dann geht das hier noch zehn Jahre alles so weiter - das wollte ich für mein eigenes Leben nicht und für meinen Sohn auch nicht."
Das Neue Forum möchte öffentliche Debatten über Staat und Gesellschaft anstoßen. Der Gründungsaufruf beginnt mit dem Satz: "In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört." Das lähme die "schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben".
Ein Programm gibt es nicht - nur offene Fragen. "Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft", heißt es in dem Aufruf etwa. Und so geht es weiter: Geordnete Verhältnisse will das Neue Forum, aber keine Bevormundung. Schutz vor Gewalt ohne einen Staat von Bütteln und Spitzeln. Ein wirksames Gesundheitswesen für alle, aber kein Krankfeiern auf Kosten der Allgemeinheit. Und dazu "müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und miteinander sprechen".
Geschichtsprofessor Wolfgang Schuller urteilt: "Das war die weichste Form der Opposition." Er hat gerade das Buch "Die deutsche Revolution 1989" veröffentlicht. Die "schärfste und härteste Kriegserklärung an die Diktatur kam dagegen von der SDP", also der Sozialdemokratischen Partei der DDR. Die hat der SED den Anspruch streitig gemacht, die gesamte Arbeiterklasse zu vertreten. Vom Neuen Forum kamen dagegen lediglich Gesprächsangebote.
Aber Bohley wollte keine Partei gründen: "Mein Gott, die Parteien haben uns doch zum Hals rausgehangen. Ich habe an die Parteien damals nicht geglaubt und tue das auch heute nicht." Also sollte das Neue Forum nur eine einfache Vereinigung sein. Doch auch das lehnt die DDR zunächst ab. Begründung: Es gebe keine gesellschaftliche Notwendigkeit für so eine Organisation. Auf den Montagsdemonstrationen erschallt der Ruf: "Neues Forum zulassen!" 200.000 Menschen unterschreiben den Gründungsaufruf.
Am 9. November 1989 fällt die Mauer. "Damit war die Mobilisierung der Oppositionsbewegung auf einen Schlag weg", erinnert sich Reinhard Weißhuhn, Mitbegründer der Initiative Frieden und Menschenrechte. Der Mauerfall führte dazu, dass "die zivilgesellschaftliche Mobilisierung ersetzt wurde durch die Orientierung auf das im Werbefernsehen zu bewundernde Modell des Westens". Die Leute vertrauten Helmut Kohl und seinem Versprechen von den blühenden Landschaften. Weißhuhn: "Das war der Wechsel von einem Gefühl der Sicherheit in ein anderes." Auch Bohley sagt: "Durch die Wende waren die Leute mit ihren privaten Umwälzungen beschäftigt." Für politische Beteiligung blieb keine Kraft mehr.
Viele Akteure der Oppositionsbewegung haben bis heute ein ambivalentes Verhältnis zum unkontrollierten Mauerfall und zur schnellen Wiedervereinigung. Natürlich finden sie es einerseits richtig, weil dies ja der Wille der Mehrheit der Bevölkerung war. Aber wäre es nicht schön gewesen, wenn die Mehrheit dafür gewesen wäre, einen eigenen Weg zu gehen? Wobei jeder natürlich hofft, dass insbesondere die eigene Utopie dabei verwirklicht worden wäre. Wahrscheinlich wäre die Opposition ziemlich schnell ziemlich zerstritten gewesen. "Manchmal ist es gut, wenn die Utopie nicht Realität wird", sagt daher Michael Bartuscheck, Mitbegründer von Demokratie Jetzt.
Zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 tritt das Neue Forum in einer Listenverbindung mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und mit Demokratie Jetzt an. Der Name der Listenverbindung: Bündnis 90. Das Misstrauen gegen Parteien bleibt, aber andererseits will die Bewegung ja gerade Debatten aus der Gesellschaft auch ins Parlament tragen.
Die Revolution kann man ohne Parteien machen, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen, der viele Kontakte zur DDR-Opposition hatte. "Aber danach muss der revolutionäre Impuls umgesetzt werden in verlässliche Strukturen, in rechtsstaatliche Regeln und politische Prozesse - dafür braucht man Parteien."
1993 fusionierte Bündnis 90 mit den Grünen zu einer Partei. Einer der letzten Abgeordneten, der aus der Bürgerbewegung stammte, war Werner Schulz. Im Jahr 2005 kritisierte er im Bundestag die Vertrauensfrage, die SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder angesetzt hatte, um vorgezogene Neuwahlen ausrufen zu können. "Mir ist die Demokratie nicht geschenkt worden", sagte Schulz. "Schon deswegen sind mir die Grundregeln der Demokratie, wie sie in unserem Grundgesetz stehen, ein hoher Wert." Schließlich zog er einen sehr umstrittenen Vergleich zwischen Bundestag und Volkskammer: "Auch da wurden die Abgeordneten eingeladen, nicht ihrer Überzeugung, sondern dem Willen von Partei und Staatsführung zu folgen." Schulz blieb eben - wie viele andere Oppositionelle - auch in der Bundesrepublik unbequem. Seine Partei hat ihn anschließend nicht noch einmal in den Bundestag geschickt.
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