20 Jahre Mauerfall: Geschmuggelte Bücher im Kuchenpaket

Seit 1949 treffen sich Ost- und Westfrauen zu den "Berliner Gesprächen" in der Golgathakirche in Mitte. Erst offen, nach dem Mauerbau 1961 dann heimlich. Am kommenden Samstag findet das letzte Treffen statt.

Karin Gaude und Sigrid Grabner zwängen sich durch eine schmale Tür in der Golgathakirche und stehen in einem schummrigen, kahlen Raum. Sigrid Grabner stutzt. "Ich habe den Raum nicht so klein in Erinnerung." Am Fenster steht ein Flügel, in einer Ecke stapeln sich Stühle. Karin Gaude dreht sich um ihre eigene Achse und hebt die Arme. "Der Raum wirkt größer", sagt sie, "wenn er voller Menschen ist."

In diesem Saal in der Borsigstraße in Mitte trafen sich seit 1949 jedes Jahr an einem Oktoberwochenende mehr als 100 Frauen. Bis zum Mauerbau ganz offen, danach heimlich, still und leise. Die einen kamen aus dem Osten und die anderen aus dem Westen. Es waren keine Zusammenkünfte, bei denen die Ostfrauen von den Westfrauen mit Puddingpulver, Apfelsinen und Seife beschenkt wurden. "Es waren Begegnungen für den Geist und auf hohem intellektuellen Niveau", sagt Gaude. "Wir haben Vorträge gehalten und gehört und darüber diskutiert."

Es ging um Literatur, Kirche, Umwelt, Geschichte, Politik. Zu den Gesprächen in die Kirche kamen Akademikerinnen zusammen, Biologinnen, Literaturwissenschaftlerinnen, Ärztinnen. Sie wollten die Welt auf ihre Weise verändern und nannten ihre Treffen "Berliner Gespräche". Das sollte neutral klingen, unauffällig und vor allem unpolitisch. Ihre Zusammenkünfte sollten auf keinen Fall auffliegen.

Die Treffen haben sich seit dem Mauerfall überlebt. Am Samstag, genau zum Tag der Deutschen Einheit, findet das letzte "Berliner Gespräch" statt. Bis jetzt haben sich 43 Frauen angemeldet. "Einige haben abgesagt, weil sie nicht mehr laufen können. Und viele sind schon gestorben", erzählt Gaude. Sie ist 72 und inzwischen eine der Jüngsten.

Die Rentnerin aus Neukölln ist so etwas wie die Schaltstelle der "Berliner Gespräche". Seit 1986 hat sie die Treffen organisiert. Sie kennt jede Frau, die irgendwann einmal dabei war, sie weiß Adressen und Telefonnummern aus dem Kopf. In ihrem Wohnzimmerschrank zu Hause steht eine Kiste mit Fotos und ein Kasten mit Karteikarten. Auf den Karten haben die Westfrauen notiert, was damals passierte. "Aber bei den Treffen haben wir nichts aufgeschrieben. Wir hatten auch keine Namensschilder, und wir haben keine Papiere ausgegeben", sagt sie.

Damals war Karin Gaude Hauswirtschaftsmeisterin und versuchte in ihrer Freizeit monatelang und unter schwierigsten Bedingungen, Informationen aus dem Westen in den Osten zu lancieren. "Manchmal war das abenteuerlich", erinnert sie sich. Telefone wurden abgehört, auch Briefe schrieben sich die Frauen nicht, die wären vermutlich abgefangen worden. "Es ging nur über Mund-zu-Mund-Propaganda", erzählt Gaude. Die Westberlinerinnen mit Reisepass fuhren rüber nach Ostberlin, klingelten auf gut Glück bei ihren Bekannten und lieferten ihre Informationen ab. Die Ostberlinerinnen gaben sie dann weiter.

Sigrid Grabner betrachtet das braun-gelbe DDR-Linoleum im Flur. "Ich fühle mich wie bei einer Zeitreise." Grabner ist Schriftstellerin in Potsdam und seit 30 Jahren bei fast jedem "Berliner Gespräch" dabei. Sie hat alle ihre Bücher in der Frauenrunde vorgestellt, Biografien über Mahatma Gandhi, Christina von Schweden, Emmi Bonhoeffer. Vor 30 Jahren kam die heute 66-Jährige über eine Bekannte in die Runde. So ohne Weiteres wurde keine Neue zugelassen, sie musste empfohlen werden. So sicherten sich die Frauen ab: Jede kannte jede. "Und jede vertraute jeder", sagt Grabner. "Wenn wir ständig daran gedacht hätten, dass es U-Boote gibt, dann wären die Wochenenden nicht so entspannt gewesen", ergänzt Gaude.

Bespitzelt wurden die Frauen trotzdem, die Stasi wusste über alles Bescheid. Grabner hat es nach der Wende in ihrer Stasiakte gelesen: Sie hatte Wanzen in der Wohnung, ihre Post wurde abgefangen. Dennoch ließ die Stasi die Frauen gewähren: Eine Gruppe, die man nicht aushob, konnte man besser abschöpfen. "Außerdem war die Stasi ein Männerverein", sagt Grabner. "Das, was wir Frauen da machten, war denen sowieso zu lapidar. Wir planten keinen Umsturz und gaben keine aufmüpfigen Schriften heraus." Die Frauen wollten einfach nur wissen, was los ist jenseits der Mauer, die sie trennte.

Die Ostfrauen sehnten sich nach Literatur aus dem Westen, nach Büchern, Zeitschriften, Musik. Einmal, erzählen die beiden Frauen, schmuggelte eine Diakonissin unter ihrem langen Gewand mehrere Bücher und Zeitungen. Die Grenzer wagten sich an sie nicht heran. Und als sich die Diakonissin später im Gemeinderaum vor den Augen der anderen Frauen auszog und immer dünner wurde, lachte der ganze Saal.

Eine andere Frau schleppte mehrere Pakete mit Kuchenmehl durch den Grenzübergang im Bahnhof Friedrichstraße. Die Frau sah aus wie eine "ganz gewöhnliche Touristin", erzählt Gaude. "Man hat in ihr vermutlich die Oma gesehen, die ihre Enkel im Osten mal so richtig gut versorgen will." Aber die "Oma" hatte vorher die Pakete aufgeschnitten, die Pulverpäckchen herausgenommen, Bücher hineingetan und wieder zugeklebt.

Was haben die Frauen voneinander gelernt? Die Potsdamerin Grabner sagt: "Ich habe einen Blick in die Welt bekommen, der mir in der DDR versagt war." Trotzdem waren es Treffen auf Augenhöhe: Die Ostfrauen erfuhren, dass der Westen nicht das goldene Paradies ist. "Wir wussten, mit welchen Sorgen und Ängsten sich die Frauen drüben herumschlugen." Und die Westfrauen sahen, wie die Menschen in der DDR lebten, und konnten der Propaganda im Westen ihre eigenen Erfahrungen entgegensetzen. "Wir haben aber auch begriffen", sagt die Neuköllnerin Gaude, "dass die Ostfrauen in ihrem Alltag dreifach beansprucht waren: als Werktätige, als Mütter und als Haushaltsmanagerinnen."

Nach der Wende änderten sich die Themen. Die Frauen redeten über soziale Marktwirtschaft, über Polen, Tschechien und die EU und wie Sprache verletzt und heilt. Vor zehn Jahren wollten sie schon einmal Schluss machen. Es reicht jetzt, sagten sie. Im Oktober 1999 stimmten sie ab. Doch da gingen nach und nach immer mehr Hände nach unten. "Wir konnten uns wohl nicht richtig voneinander trennen", sagt Karin Gaude. Sigrid Grabner: "Aber jetzt ist es definitiv vorbei."

Am Samstag wird Grabner ihr neues Buch vorstellen: "Im Auge des Sturms", eine Biografie über Gregor den Großen. Gaude wird die Fotos zeigen, die sie die Jahre über aufgehoben hat. Sie hat sie alle eingescannt und will eine Power-Point-Präsentation machen - extra für das allerletzte "Berliner Gespräch".

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