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18 Monate Krieg in der Ukraine315 Quadratkilometer in 80 Tagen

Wo steht die Gegenoffensive der Ukraine? Und wie groß ist der Materialverbrauch? Ein Überblick über die wichtigsten Frontabschnitte.

Klingt süß, ist aber tödlich: ein Mini-Mehrfachraketen-System an der Front nahe Bachmut, 20. 8. 2023 Foto: Foto:Libkos/ap

Berlin taz | Die laufende Gegenoffensive der Ukraine widerspricht allen bewährten Regeln der Kriegskunst. Ohne Lufthoheit, ohne vorherige Zerstörung der gegnerischen Artillerie aus der Luft und ohne überlegene Truppenstärke rennen ukrainische Einheiten seit Anfang Juni gegen gut befestigte russische Verteidigungsstellungen an, in die Tiefe gestaffelt und geschützt von riesigen Minenfeldern.

Solange die russischen Linien halten, sind unter diesen Umständen große Geländegewinne nicht möglich. Die Ukraine setzt darauf, dass sie die russischen Linien langsam, aber sicher schwächt und dann in die Tiefe vorstoßen kann. An einigen Stellen wurden die vordersten Verteidigungslinien bereits überwunden. Die zweiten und dritten sind vielerorts ausgedünnt, weil Russland schon viel Material und Truppen nach vorne geworfen hat.

Die Kämpfe sind sehr intensiv und es gibt keine verlässlichen Angaben über menschliche Verluste. Doch es gibt Daten zum Materialverbrauch, weil die westlichen Alliierten der Ukraine genau beobachten, wie erfolgreich die Ukraine das von ihnen gelieferte Kriegsgerät einsetzt.

Laut dem französischen Analysten @escortert, der die vorhandenen Daten täglich auswertet, liegt beim Einsatz von Artillerie das Verhältnis Russland–Ukraine bei über 7 zu 1 – Russland schießt mehr als siebenmal so viel mit schwerem Gerät wie die Ukraine, obwohl es die Ukraine ist, die sich in der Offensive befindet und daher stärker feuern müsste.

Ukraine-Dossier

Schon seit anderthalb Jahren läuft der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Am Donnerstag begeht die Ukraine nicht nur ihren Unabhängigkeitstag, vor nun genau 18 Monaten am 24.2.22 hatte Russland die Ukraine attackiert. Die Ukrai­ne­r:in­nen haben sich gewehrt, ein Ende der Kämpfe ist nicht abzusehen. US-Präsident Joe Biden hatte auf die Frage, wie lange der Westen die Ukraine unterstützen würde, geantwortet: „As long as it takes“. So lange es notwendig ist. Zum Jahrestag fragt die taz in einem Dossier: Was heißt das eigentlich genau? Wie lebt es sich in der Ukraine mit dem Krieg? Wie wirken die Sanktionen in Russland? Wie ist die militärische Lage im Land? Und wie sieht es mit der Unterstützung der aus der Ukraine Geflüchteten in Deutschland aus?

Zahlenmäßig ist die Ukraine erfolgreicher

Bei Verlusten von Artillerie liegt das Verhältnis hingegen bei 1 zu 3 – Russland verliert dreimal so viele Geschütze wie die Ukraine, obwohl die russischen Truppen siebenmal mehr schießen, als sie selbst beschossen werden. Dies zeugt von einer deutlich höheren Trefferquote der ukrainischen Seite. Materialverluste insgesamt sind auf russischer Seite etwa ein Drittel höher als auf ukrainischer.

Sowohl in Ausrüstung als auch in Ausbildung, Organisation und Kommandostruktur und nicht zuletzt in der Moral ist die Ukraine Russland überlegen. Russlands Übergewicht besteht allein in der Masse. Es ist ein Krieg von Qualität gegen Quantität. Das ukrainische Kalkül ist: Qualität schlägt Quantität – zumal ihre eigene Qualität durch verstärkte westliche Unterstützung steigt, während die russische Quantität durch ständige Verluste sinkt.

In 80 Tagen hat die Ukraine rund 315 Quadratkilometer befreit.

Ein Überblick

Cherson: Ukrainische Einheiten haben an mehreren Stellen den Dnipro-Fluss überquert und halten kleinere Brückenköpfe. Russische Militärblogger bezeichneten die Lage jüngst als „total Scheiße“, zumal russische Einheiten von dort zur Verstärkung anderer Frontabschnitte abgezogen wurden.

Orichiw: Im westlichen Bereich der Südfront laufen ukrainische Angriffe seit dem 7. Juni. Zuletzt wurde vor wenigen Tagen der Ort Robotyne befreit, 10 Kilometer südlich der ursprünglichen Front. 20 Kilometer weiter liegt der Ort Tokmak, durch den die einzige durchgehende Ost-West-Eisenbahnlinie im russisch besetzten Süden der Ukraine verläuft.

Sollte die Ukraine Tokmak befreien und die Kertsch-Brücke zwischen Russland und der besetzen Krim durch Beschuss dauerhaft unbrauchbar machen, wären die russischen Einheiten auf der Krim und südlich von Cherson vom Nachschub abgeschnitten.

Bisher befreites Gebiet: rund 80 Quadratkilometer

Welika Nowosilka: Im östlichen Bereich der Südfront laufen ukrainische Angriffe seit dem 4. Juni. Zuletzt wurde vor wenigen Tagen der Ort Uroschajne befreit, 9 Kilometer südlich der ursprünglichen Front. Nur wenige Kilometer trennen die ukrainischen Truppen noch vom Ort Staromlyniwka. Dahinter werden die russischen Verteidigungslinien dünner.

Von dort aus könnte die Ukraine entweder nach Südosten Richtung Mariupol vorstoßen, eine vergangenes Jahr fast komplett von Russland zerstörte Großstadt mit immenser symbolischer Bedeutung für die Ukraine, oder nach Süden Richtung des wichtigen Hafens Berdjansk.

Bisher befreites Gebiet: rund 190 Quadratkilometer

Awdijiwka: Seit 2014 liegt die westliche Vorstadt von Donezk an der Kriegsfront. Im Frühjahr dieses Jahres versuchte Russland, sie zu umzingeln. Im Sommer hat die Ukraine dies gestoppt.

Bachmut: Die Industriestadt im Donbass war der heißeste Brennpunkt des Krieges in der ersten Hälfte 2023 bis zur Einnahme durch Russland Ende Mai. Seit Juni hat die Ukraine nördlich und südlich der Stadt wichtige Anhöhen zurückerobert.

Bisher befreites Gebiet: rund 45 Quadratkilometer

Kupjansk: Nahe der Grenze im Gebiet Charkiw hat Russland im August Entlastungsangriffe gestartet.

Bisher erobertes Gebiet: rund 65 Quadratkilometer

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3 Kommentare

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  • Zweimal Wuppertal



    Siebzehndreiviertel, Kilometer Kantenlänge hat ein Quadrat mit 315 km2, da radelste mal eben annem Nachmittag drumrum. Nur damit aus der Zahl ne geo-grafische Vorstellung wird: welches Dorf liegt so um die 17 km von eurem Wohnort entfernt ? Der Landkreis Herford hat 450 km2, die Stadt Wuppertal 170.

    • @lesnmachtdumm:

      „…da radelste mal eben annem Nachmittag drumrum.“

      Der ostwestfälische oder bergische Breitensportler tritt aber nur in die Pedale und muß schlimmstenfalls mit einem Platten oder Muskelkater rechnen. Ein Bataillon (~800 SoldatInnen) verteidigt ~5 km Frontbreite und ~3 km -tiefe, vorne also mal 3,5 plus Reserve plus Artillerie plus Luftunterstützung plus Minenfelder. Das kann gehen die ~5fache Übermacht gehalten werden - damit sozusagen „aus der Zahl ne [taktische] Vorstellung wird“.

      • @C(h)risP:

        Sehr gut. Niemand will den Erfolg kleinreden, schon gar nicht kritisieren. Das Problem der professionell gemanage-ten Minenfelder hat es in dieser Form in der Weltgeschichte noch nicht gegeben. ,S'gibt ihn aber eben, den Vergleich zu dem, was letzten Herbst sehr viel schneller gelang (natürlich aus nachvollziehbaren Gründen), und den zu all dem, was dieses Jahr noch kommen müsste. Ein riesiges Land mit eher wenigen Menschen verteidigt mehrere tausend km line of contact, und muss dann noch an mehreren Stellen angreifen.