15. November 1989: Die Aasgeier kreisen
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Während in der Volkskammer die Abgeordneten ihrem Ärger Luft machen und der abgedankten Regierung Verfassungsbruch vorwerfen, kippt die Stimmung im Lande. Auf der Montagsdemo in Leipzig vor zwei Tagen wehten unzählige Deutschlandfahnen, aus „Wir sind das Volk“ ist „Wir sind ein Volk“ geworden, und statt der Internationale wird das Deutschlandlied gesungen.
Außerdem bricht dort in Extra- und Sondersendungen die Stunde der Fachleute an. Zuerst kommen die kaffeesatzlesenden „Ost-Experten“, die sybillinisch über den inneren Zustand der SED orakeln. Ihnen folgen die politischen Hinterbänkler, die von „Wiedervereinigung“ sprechen. Manche sind zurückhaltend, andere reden im Brustton der Überzeugung von einer unausweichlichen, historischen Notwendigkeit. „Die Menschen“ würden das so wollen.
Angesichts der Deutschland- einig-Vaterland-Stimmung, die sich überall breitmacht, fällt es schwer, ihnen zu widersprechen. Mich verwundert nur, daß die Damen und Herren aus der Bundesrepublik so schweigsam waren, als „die Menschen“ auf Straßen und Plätzen noch lauthals einen demokratischen Sozialismus forderten.
Der Zorn der Abgeordneten des „demokratischen Blocks“ scheint indes schnell verraucht zu sein. Sie sind damit beschäftigt, sich auf die Seite der Sieger zu schlagen. Die LDPD spricht von einer SED-Abstimmungsmaschine in der Volkskammer gerade so, als sei sie niemals Teil einer solchen gewesen. Und die Abgeordneten der CDU tun so, als seien sie in den vergangenen Jahren mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden, immer brav mit der SED zu stimmen. Wo das Aas liegt, sammeln sich die Geier. Wolfram Kempe
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