15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: Hermann Hesse gegen die Wand
Der Blick auf Menschen mit Behinderung ist immer noch geprägt von einer falschen Barmherzigkeit, die dazu dient, die eigene Schwäche auszublenden.
F ünfzehn Jahre war ich alt, als ich das erste Mal in meinem Leben ein Buch gegen die Wand warf. Ein Skandal, denn Bücher sind Lebensmittel für Familie Streisand.
Ein versteckter Koffer voller Erstausgaben bewahrte das „arisierte“ Antiquariat meines Urgroßvaters in der Nazizeit vor dem Ruin, meine Mutter war Literaturwissenschaftlerin, ihr Vater Historiker. Wände waren dazu da, Bücherregale dranzustellen, nicht um deren Inhalt dagegen zu werfen.
„Was soll ich’n jetz lesen?“, fragte ich meine Mutter in den Neunzigern alle paar Wochen. Sie sah mich an, überlegte kurz und ging mit mir zu einem der Regale in unserer Wohnung, aus dem sie einen Band zog und sagte: „Hier, probier ma ditt, ick glaube, dafür biste jetz alt genug.“
Auf diese Weise hatte ich mit fünfzehn bereits Thomas Mann, Fontane, Fallada, Plenzdorf usw. gelesen.
ist Berliner Autorin und Schriftstellerin,
liest seit 2003 auf Lesebühnen und Poetry-
Slams in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ihr
neuestes Buch heißt „Berlin ist eine Dorfkneipe“.
Als junges Mädchen in den klassischen Literaturkanon einzusteigen bedeutet, um die Ecke denken zu lernen, also das auszubilden, was Sigrid Weigel den „schielenden Blick“ nannte, sich selbst stets auch von außen – aus der Perspektive der die Norm bestimmenden Subjekte – zu betrachten. Es bedeutet, mit dem Gefühl aufzuwachsen, nicht mitgedacht worden zu sein und sich eine Rolle anzueignen, die nicht für einen bestimmt ist. Die des Helden. Durch Lesen lernte ich: Die Macht lag bei den Männern, eine Frau konnte Macht nur erreichen, indem sie einen Mann manipulierte und an sich band.
Frauenfiguren existierten hier vorrangig durch ihren Nutzen für den männlichen Protagonisten – in genau zwei Varianten: Sexualobjekt oder liebende Mutter, was mir die Notwendigkeit verdeutlichte, Ersteres werden zu müssen, um Letzteres werden zu können, also sichtbar zu werden, um Arbeit zu bekommen. Denn Mutterschaft war die einzige Arbeit, die Frauen besser konnten als Männer. Weil ihre Körper dafür gemacht waren. Doch wie wurde man ein Sexualobjekt, wenn man keines der dafür vorgeschriebenen Attribute besaß?
Callboy in Mönchskutte
Das Buch, das damals gegen die Wand flog, war Hermann Hesses „Narziss und Goldmund“, erschienen 1930, der Schulmädchenreport unter den Jugendbüchern, in welchem sich der Protagonist Goldmund als eine Art Callboy in Mönchskutte durch das Spätmittelalter vögelt. Jede Frau begehrt ihn und er beglückt sie alle.
Atemlos hatte ich mich durch die schwüle Atmosphäre postpubertärer Adoleszenzprosa geblättert, bis der Lesefluss auf Seite 197 jäh stoppte bei dem Satz: „Es war die Tochter des Hauses, ein Kind von fünfzehn Jahren, ein stilles, kränkliches Geschöpf mit schönen Augen, aber mit einem Schaden am Hüftgelenk, der sie hinken machte.“
Liebe Güte, das war ja ich! Also still eher nicht, aber kränklich, 15, schöne Augen kam alles ungefähr hin und vor allem das Hüftgelenk, das Hinken, ein Teenager mit Gehbehinderung! Wie ich.
Es war, als hätte ich bisher hinter der Bühne gestanden und heimlich durch den Vorhang geschielt auf das, was nicht für mich bestimmt war, weder als Handelnde noch als Zuschauerin, und nun plötzlich hatte Hermann Hesse den Vorhang weggerissen und ich stand im Rampenlicht. So, wie ich war.
Ich kam nämlich in den Büchern, die ich las, nicht nur als Mädchen nicht vor; Personen mit Behinderung gab es in der Literatur überhaupt keine.
Also es gab Kriegsversehrte und Kranke, die das Schicksal getroffen hatte, worunter sie wahnsinnig litten. Aber normale Behinderte, wie ich sie kannte, Kinder im Rollstuhl, mit Epilepsie oder Herzfehler, Kleinwüchsige, also normale Leute, die einfach etwas länger brauchten als ihre Altersgenoss*innen, waren mir bisher in der Literatur noch nicht begegnet.
Der heilige Mitleidskuss
Bis jetzt bei Hesse. Fiebrig las ich weiter: „Er dankte ihr und küsste sie zum Abschied mitleidig auf den schmalen Mund. Andächtig, mit geschlossenen Augen, empfing sie den Kuss.“
Hermann Hesse
Mitleidig. Klang jetzt nicht so geil, aber gut. Fünfzig Seiten später taucht das Mädchen – sie heißt Marie – im Text wieder auf: „Ja, es war Marie, es war das dürftige Kind mit dem kranken Hüftgelenk, das damals so lieb und schüchtern für ihn gesorgt hatte (…) er hatte ihr einen Kuss gegeben, den hatte sie so still und feierlich empfangen wie ein Sakrament.“ Bitte quittieren Sie den Empfang des Kusses unten rechts. Also sexy war anders. Weiter im Text: „Jetzt war sie groß geworden und hatte sehr schöne Augen, aber sie hinkte noch immer und sah etwas verkümmert aus.“ Sie hinkte noch immer. War kein Wunderheiler vorbeigekommen. Ach Mensch! Dann weiter unten: „Er blieb, weil (…) die Liebe der armen Marie ihm wohltat. Er konnte sie nicht erwidern, er konnte ihr nichts geben als Freundlichkeit und Mitleid, aber ihre stille demütige Anbetung wärmte ihn doch.“
Und das von einer Männerfigur, die es wirklich mit allem treibt, was – um es mit der Berliner Band Die Ärzte zu sagen – „nicht bei drei auf den Bäumen ist“. Dick, dünn, alt, jung, arm, reich, alles kein Problem, alles findet Goldmund attraktiv, aber bei Behinderung hört der Spaß auf, da ist die Libido im Keller, Behinderung ist die ultimative Grenze des Begehrenswerten, der Punkt, an dem die Sexualität ausgespielt hat und durch Mitleid ersetzt wird, da wird der Callboy plötzlich zu Jesus, weil nur Jesus sich den Aussätzigen nähern konnte, ohne sich anzustecken oder sich vor Ekel zu übergeben, was diesen Mitleidskuss dann auch noch zur heiligen Handlung stilisiert. Und na ja, ungefähr an dem Punkt meiner Überlegungen warf ich das Buch dann gegen die Wand.
Ein Weiter Weg
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Emanzipation ist kein Automatismus, sondern ein fortlaufender Prozess ständiger Analyse. „Narziss und Goldmund“ erschien 1930 und kann als humanistischer Gegenentwurf zu damals populären sozialdarwinistischen „Rassenhygiene“-Theorien gelesen werden, die kurz darauf im systematischen Massenmord der Nationalsozialisten an Behinderten, Juden und allen als „lebensunwert“ Aussortierten kulminierte.
Alles lange her. 2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet „in Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können“. 2009 wurde sie in Deutschland anerkannt. Heute fährt in jeder Fernsehserie ein Schauspieler im Rollstuhl durchs Bild, in jeder Schule gibt es einen Inklusionsbeauftragten.
Doch sortiert wird noch immer. Im kollektiven Bewusstsein ist der Mitleidstopos bis heute die häufigste Verknüpfung mit Behinderung und Krankheit. Der Behinderte existiert in Literatur, Film und Fernsehen vor allem als lebende Vanitas. So tapfer, wie er sein Schicksal erträgt. Oft sogar in Verknüpfung mit dem zur Erlösung verklärten Euthanasiegedanken.
Wie im Weltbestseller „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Mojes (2012), wo sich die Krankenschwester – als Symbiose aus Care-Arbeiterin und Sexualobjekt die perfekte Frau – in ihren querschnittsgelähmten Patienten verliebt und ihn am Ende aus Liebe von dem Leiden erlöst, das sein Leben darstellt. Denn Leben mit Behinderung und Krankheit gilt auch heute, 18 Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention, vor allem als unerträglich, undenkbar – und als Zumutung für die Gesellschaft.
Der Theologe und Behindertenaktivist Matthias Vernaldi erklärte mir einmal, das einzige Tattoo, das er sich stechen lassen würde, wäre ein Schriftzug quer über die Brust „Ich will leben!“, damit ihm keine Person mit Erlöserfantasien den Saft abdrehe, falls er wieder einmal im Krankenhaus auf der Intensivstation im künstlichen Koma liege.
Die Sendung mit dem Mitleid
Inklusion ist heute Gesetz. Doch der Blick auf Behinderte ist immer noch geprägt von einer falschen Barmherzigkeit, die dazu dient, die eigene Schwäche auszublenden und durch Abgrenzung gegen das angeblich Kranke, Schwache, Bemitleidenswerte das Ideal des optimierten Menschen als Norm zu postulieren.
Und weil es dafür immer noch zu wenig Bewusstsein gibt, habe ich – dreißig Jahre nachdem der Hesse gegen die Wand flog – neulich fast unseren Fernseher aus dem Fenster geworfen. Anlass war eine Ausgabe der „Sendung mit der Maus“ vom WDR zum „Tag der seltenen Krankheiten“ am 29. Februar.
Porträtiert wurde eine Grundschülerin mit Behinderung. Der Beitrag nahm die gesamte Sendezeit ein, keine Lachgeschichten, wenige Maus-Clips, zu lachen gab’s hier diesmal nichts.
Eine halbe Stunde lang mussten wir dabei zusehen, wie die achtjährige Mona von der erwachsenen Redakteurin ihrer Intimsphäre beraubt wurde, wie sie ihren Alltag, ihre Behandlungen und ihre Krankheit erklärte, unterlegt mit melancholischer Musik, was jede Autonomie des Kindes unterminierte.
Etwa in der Mitte der Sendung musste ich den Raum verlassen.
Da sitzt die Redakteurin mit Mona und ihrer besten Freundin auf dem Spielplatz.
Redakteurin: „Was mögt ihr gerne aneinander?“
Beide Mädchen: „Wir tanzen und singen gerne …“
Schnitt. Neue Frage an die Freundin der Protagonistin: „Was magst du besonders an Mona?“
Freundin: „Äh …“ (Schnitt. Close-up Gesicht, sie blickt zu Boden, sehr nervös) „… wenn sie hinfällt und was nicht schafft, dass sie einfach wieder aufsteht und weitermacht.“
Die Redakteurin nickt zufrieden.
„Nein“, rufe ich auf dem Sofa neben meinem Sechsjährigen. Seit Minuten habe ich mich gewunden und dazwischengemeckert. Und dann kam das Schlimmste. Die Gegenfrage der Redakteurin an Mona, warum sie gerne mit ihrer Freundin zusammen ist. Sie hat es schon gesagt, aber Kinder sind gewohnt, den Erwartungen der Erwachsenen zu entsprechen, der schielende Blick ist überlebenssichernd für jede vulnerable Gruppe. Und so antwortet das Mädchen souverän lächelnd: „Sie ist immer so nett zu mir und hilft mir beim Aufstehen.“ An der Stelle hätte ich dann fast den Fernseher aus dem Fenster geworfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung