100. Todestag Karl May: Unsterblich im Winnetouland
In der DDR war er lange verpönt. Umso mehr stachelte Karl May die Fantasie seiner Bewunderer in der sächsischen Heimat an. Eine Spurensuche.
HOHENSTEIN-ERNSTTHAL/RADEBEUL taz | „Karl May lebt!“, schreit es von der Fahne. „Karl May lebt!“, ruft ein Plakat am Torweg. „Karl May lebt“, wiederholt es der Zettel im Fenster. Nur die Kehrmaschine, die vorüberkriecht, verkündet keine Botschaft. Als ob sie hier in Hohenstein-Ernstthal nicht wahrhaben wollten, dass ihr Sohn schon seit hundert Jahren tot ist. In der Butze, schmal wie ein Handtuch, kam der Vater von Winnetou zur Welt, heute ist sie ein Museum – und ein Tempel, aus dem es unablässig summt: „Karl May lebt!“
„Da ist ’ne Aura, da ist ’ne Spannung vorhanden, die wirkt und weiterwirken wird“, hebt André Neubert an. Trüge er nicht das weiße Hemd, sondern ein Lederwams, man könnte glauben, Old Shatterhand redet. An Wuchs und Kraft steht er ihm in nichts nach, und selbst seine sächsische Zunge stört nicht. Doch Neubert ist kein Landvermesser in den Rocky Mountains, sondern Museumsleiter im Erzgebirge. Der 52-Jährige vermisst keine Eisenbahntrasse, er vermisst die Existenz von Karl May.
Dieses Leben begann hier in dem Haus unweit der Kirche. Tafeln mit dem Konterfei von May alias Old Shatterhand prangen an jedem dritten Haus in Hohenstein-Ernstthal, erzählen, wo sich der kleine May Bücher lieh, wo er Kartoffelschalen erbettelte und wo er den Gesangsverein leitete.
Die Person: Karl May wird am 25. Februar 1842 als fünftes von 14 Kindern in eine Weberfamilie in Hohenstein-Ernstthal geboren. Er wird Volksschullehrer und erhält 1861 eine Anstellung. Kurz darauf wird er wegen Diebstahls zu sechs Wochen Haft verurteilt. Es folgen Zechprellerei, Amtsanmaßung, Hochstapelei und weitere Diebstähle. Insgesamt verbüßt er siebeneinhalb Jahre im Gefängnis.
Der Autor: 1875 beginnt Mays Aufstieg als Reiseschriftsteller, ohne je in den beschriebenen Ländern gewesen zu sein. 1893 erscheinen Winnetou I bis III. Kritiker bezeichnen ihn später als Schwindler und bringen seine kriminelle Vorgeschichte ans Licht. Mays Auflage liegt derzeit bei etwa 200 Millionen Büchern, davon 100 Millionen in Deutschland. May stirbt am 30. März 1912 in Radebeul.
Das Vermächtnis: Während Karl May in den 60er Jahren vor allem in Filmen mit Lex Barker und Pierre Brice im Westen Erfolge feierte, wurde er in der DDR totgeschwiegen. 1982 kam es zur Umkehr, May wurde zum "Kämpfer gegen die Raub- und Ausrottungspolitik" der USA, seine Bücher wurden aufgelegt, Filme gezeigt, Museen in Hohenstein-Ernstthal und Radebeul neu- bzw. wiedereröffnet.
Im Zentrum dieser Topografie blickt an der Kirche May selbst von einer Säule. Ein Professorengesicht mit Oberlippenbart, und die Lippen so gespitzt, als wollte er noch etwas mitteilen. Doch seine wichtigste Botschaft steht in der Säule gemeißelt: „Es sei Friede“. Das ist der letzte, größte Wunsch von Old Shatterhand, Winnetou, Kara Ben Nemsi und Dr. Karl May, Sohn mittelloser Weber, der über sieben Jahre in sächsischen Zuchthäusern zubrachte, bevor er in seine Abenteuerwelt aufbrach, mit Erzählungen zurückkam und Rekordauflagen erzielte.
Ins Japanische übersetzt
André Neubert muss sich im Karl-May-Haus beständig bücken. Die Treppe ächzt, als er, vorbei an der Winnetou-Büste, nach oben klettert. „Mit den Namen Winnetou und Karl May kann jeder etwas anfangen“, fährt er fort. Ob man den Sachsen nun mag oder nicht. Neben Mozarts „Zauberflöte“ ist der Winnetou-Zyklus der meistgespielte Stoff auf deutschen Freilichtbühnen, über 300.000 Besucher allein 2011 in Bad Segeberg.
Und wenn in Deutschland trotz allem das Interesse nachlassen sollte – vielleicht wird der edle Indianer dann die Chinesen anrühren? „Das wäre eine Milliardenauflage“, frohlockt Neubert. Nächste Woche komme der japanische Übersetzer, und die Bahasa-Indonesia-Übersetzungen lassen hoffen. Neubert bleibt vor einer Vitrine stehen. Wie zum Beweis bietet sie lauter frische Druckware zum Karl-May-Jahr 2012 feil. May auf allen Deckeln, zumeist als Old Shatterhand mit Filzhut und Henrystutzen.
Man stelle sich Goethe als Faust, Thomas Mann als Hans Castorp und Grass mit Blechtrommel vor. Karl May ist ganz und gar in seinen Helden hineingekrochen. Und die Verwandlung wirkt. „Ein Dutzend Bücher, das geht rund“, meldet sich Neubert zu Wort. Als ob er es selbst nicht glaubte, sinniert er: „Man denkt, Karl May ist ausgelutscht. Ist er aber nicht.“ Karl May lebt! Nur Kojoten und Hundesöhne können behaupten, er sei tot.
„Karl May lebt?“ Ein grauhaariger Herr steht im Museumsshop, wo die grüngoldenen Bände wie stille Regimenter warten. Er spottet: „Ich seh ihn aber nicht!“ – „Der ist gerade auf großer Reise“, entgegnet Mitarbeiterin Heike Graupner kess. Ein – Kojote? Hier? I wo. Herr Georgi erweist sich als Fachmann. Er könnte seinen Winnetou im Schlaf runterbeten. Umso mehr treibt ihn die Frage um: „Wer kann mir etwas zum Buch ’Hadschi Halef Omar im Wilden Westen‘ sagen?“ Autor sei ein gewisser Karl Hohenstein, offenbar ein Pseudonym. Frau Graupner muss passen. Sie schickt Georgi zu André Neubert hinauf.
Neumexiko oder Oberlungwitz?
Im Frühlingsdunst verschwimmen die Hügel. Sind das die Berge von Neumexiko, wo Old Shatterhand und Winnetou Blutsbrüder wurden? Nein, da hinten liegt Oberlungwitz, die Strumpfstadt. „Sie können erwähnen, dass Kinder und Jugendliche im Karl-May-Jahr freien Eintritt bekommen“, war der Wunsch André Neuberts. Die junge Generation hat solche Anreize bitter nötig.
Über den Fluren der Karl-May-Grundschule liegt eine seltsame Stille. „Warnstreik!“, klärt ein Plakat auf. Oben sitzt Lutz Krauße in seinem Büro. Der Leiter der einzigen Karl-May- Schule weltweit kommt schnell zur Sache. „Die Frage, was die Kinder lesen, stellt sich gar nicht“, macht Krauße klar. Viel wichtiger sei, dass sie überhaupt noch lesen. Und Karl May sei für Erst- und Zweitklässler ein doch eher hartes Brot.
Krauße seufzt. Allgemein lasse die Lesefähigkeit zu wünschen übrig. „Die Medienlandschaft hat sich so sehr verändert“, wirbt Krauße um Verständnis. Es scheint, als hätten die Kinder vom Feuerwasser gekostet, das einst die Apatschen zermürbte. Sparte vor hundert Jahren der Weber – stolz, endlich lesen zu können – seine Groschen auf, um mit Old Shatterhand in die Ferne zu reisen, winken seine Nachkommen müde ab. „Wir versuchen das auf dem heimatkundlichen Weg“, erläutert Krauße.
Karl Mays Kindheit, überhaupt das Leben früher, damit könne man Kinder erreichen. Zudem gebe es fächerübergreifenden Unterricht, wo man May regelmäßig thematisiere, und demnächst fahren drei Klassen zur Villa „Shatterhand“ nach Radebeul. „So versuchen wir, den Namen Karl May ein bisschen aufzupeppen“, fasst Krauße zusammen.
Der Fluss glänzt in der Sonne. Ist das der Canadian River? Nein, es ist die Elbe bei Dresden. Die Autobahnbrücke ist das Nadelöhr der A4. Und dennoch, wenn bei René Wagner im nahen Radebeul das Telefon klingelt, dann öffnet sich ein Spalt zum Wilden Westen. Die „Old-Shatterhand-Melodie“ erklingt so laut, als hätte sich ein Filmorchester in die Bibliothek geschlichen.
Auferstehung in den 80ern
Hier in der Villa „Shatterhand“ schließt sich der Kreis. Der Junge aus Hohenstein-Ernstthal ist durch seine Bücher reich geworden. Die Villa hat er sich zur Residenz erkoren. Am Sims ließ er mit goldenen Lettern Villa „Shatterhand“ anbringen. Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi ritten hier ein, stellten ihre Büchsen ab und gingen in Rente. Ihr Alter Ego Karl May wurde hier aber auch von seinen Feinden verfolgt. Seine Abenteuerwelt sei nur herbeifantasiert, behaupteten sie. Neumexiko? Habe er nie betreten. Die Apatschen? Nie gesehen.
Dabei kann man eine Weltreise machen, ohne sich vom Stuhl zu erheben. DDR-Bürger wissen das noch. Die fantastische Kraft Karl Mays hat hier besonders gewirkt. René Wagner hat als SED-Genosse die letzte Auferstehung Karl Mays persönlich miterlebt, er hat gesehen, wie sich der städtische Kinderhort 1985 in die Villa „Shatterhand“ zurückverwandelt hat, auf Geheiß Erich Honeckers. Danach wurde „Winnetou“ in Viertelmillionauflage gedruckt, und die Bände gingen trotzdem nur unterm Ladentisch weg.
Wagner, 62 Jahre alt, seit 1987 Chef der Villa „Shatterhand“ und damit der Statthalter Karl Mays, hat in die Dachkammer geladen, wo Tomahawks und Friedenspfeifen griffbereit liegen. May selbst habe ja Freundschaft, Pazifismus und die Achtung vor fremden Kulturen gepredigt, umreißt Wagner das Wirken des Hausherrn. „Klar schneiden in allen seinen Werken die Deutschen, gelinde gesagt, nicht schlecht ab“, räumt er ein. „Aber was bei May an Werten vermittelt wird, das vermissen heute die Leute.“
60.000 Besucher finden jährlich hierher. Welches Literaturmuseum könne solchen Andrang vermelden? „Wenig für unseren Anspruch!“, setzt Wagner hinzu. Deswegen werde gebaut, ein Haus für Museumspädagogik, ein Besucherzentrum und ein Erlebnispfad. Außerdem wird die „Villa Bärenfett“ saniert, das Blockhaus mit der Sammlung über die Indianer. Dann könnte man sich wieder den Zahlen annähern wie nach der Wende, als 145.000 Besucher kamen.
Unten füllt sich die Villa mit Besuchern. Vor dem Ausgang stehen hinter Glas Silberbüchse, Bärentöter und Henrystutzen. Und Karl May? Der schläft in einem griechischen Tempel auf dem Friedhof Radebeul-Ost. Einen Gewehrschuss von hier entfernt. Apropos Schuss. Am Sterbetag könnten Old Shatterhand und Winnetou geritten kommen, Büchsen in der Hand und vor dem Grab ein Salut abfeuern.
Die Rentner an den Gräbern würden die Pflanzhölzer wegwerfen, von den Stiefmütterchen aufblicken und fragen: Karl May lebt? Und die beiden Kerle würden feixen: Vielleicht nicht direkt. Aber richtig tot ist er auch noch nicht.
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