100 Tage Merkel & Westerwelle: Kundus und Kassen
Was aus den Plänen zu Steuersenkung und Gesundheitsreform wurde und wie die Regierung zu einer neuen Afghanistanstrategie kam. Die Bilanz eines holprigen Aufbruchs ins Ungefähre.
AFGHANISTAN Der erste Skandal, der erste Ministerrücktritt und eine neue Strategie - der Bundeswehreinsatz in Afghanistan bleibt schwierig
Wie schwierig der Afghanistaneinsatz auch für die schwarz-gelbe Koalition werden würde, war spätestens am 27. November klar. Das frisch gekürte Kabinett büßte den ersten Minister ein: Franz Josef Jung (CDU), der aus ebenso rätselhaften Gründen Arbeitsminister wie zuvor schon Verteidigungsminister geworden war, trat zurück.
Jung hatte nicht erklären können, wie es am 4. September 2009 zum Luftangriff in Kundus gekommen war und wieso das Verteidigungsministerium die Öffentlichkeit darüber belog. In den Sog des Skandals geriet auch der neue Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Demnächst wird er dem Untersuchungsausschuss des Bundestags erklären müssen, warum er das Bombardement zunächst für angemessen und sogar für unvermeidbar hielt.
Um auf die Empörung zu reagieren, präsentierten Kanzlerin Angela Merkel und sämtliche mit Afghanistan befassten Minister zur Londoner Konferenz eine neue Afghanistanstrategie. Der Bundeswehreinsatz soll nun eher defensiv werden. Sogar der Kampftrupp "Quick Reaction Force" wird aufgelöst und der neuen Parole "Schutz und Ausbildung" unterstellt.
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) tat zwar so, als entspreche all dies seinem liberalen Masterplan, doch ist die neue deutsche Friedfertigkeit deutlich eine Reaktion auf Kundus - und auf das Einschreiten der USA. Schließlich hat sich die Lage im deutschen Zuständigkeitsgebiet gar nicht geändert. Dennoch werden 5.000 US-amerikanische Soldaten dorthin geschickt - zum großen Teil Kämpfer.
Stolz vermeldete Guttenberg, diese stünden unter deutschem Kommando. Die Folge dürfte jedoch sein, dass künftig ein deutscher General Rede und Antwort stehen muss, wenn US-Truppen "Kollateralschäden" produzieren. Guttenberg kann daher nur hoffen, dass es den Amerikaner ernst damit ist, den Tod von Zivilisten vermeiden zu wollen.
Ob die Fastverdoppelung der zivilen Mittel für Afghanistan der schwarz-gelben Regierung nur Freude bringen wird, ist ebenfalls fraglich. Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) hat sich bereits den Zorn der Hilfsorganisationen eingehandelt. Die wollen sich nicht von Niebel mit der Bundeswehr zusammenkoppeln lassen. Deren "Schutz", argumentieren die Entwicklungshelfer, gefährde sie bloß.
Auch das Auswärtige Amt stellt weitere Millionen für Afghanistan bereit. Woher das Geld kommt, ist noch unklar. Die Grünen haben bereits entdeckt, dass Westerwelles Etatentwurf für humanitäre Hilfe und Krisenprävention im Rest der Welt auffällig geschrumpft ist. ULRIKE WINKELMANN
STEUERN Vom ersten Tag an stritten CDU und FDP um das Thema Steuersenkungen. Inzwischen werden die Widersprüche von der Posse um die Hotelbetten verdeckt. Am Ende steht wohl eine Reform, die keine ist.
Schon mit ihrem früheren Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Haushaltsrahmen vorgegeben: 86 Milliarden Euro Neuverschuldung im Jahr 2010, so viel wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Infolge der Krise fehlen Einnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen, auf der anderen Seite gibt der Staat viel Geld für Konjunkturprogramme und Kurzarbeit aus. Dennoch sprachen sich Union und FDP in ihren Wahlprogrammen für Steuersenkungen aus.
In der Koalitionsvereinbarung einigten sich die neuen Regierungspartner auf Steuersenkungen in Höhe von 24 Milliarden Euro, die "möglichst" zum 1. Januar 2011 in Kraft treten sollten. Vom ersten Tag an begann Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), die Aussage in Interviews zu relativieren - sehr zum Ärger seiner FDP-Kollegen. Seither verging kaum eine Woche, ohne dass sich die Koalitionspartner öffentlich darüber stritten. Seit einem Treffen der Koalitionsspitzen vor zwei Wochen besteht aber auch die FDP nicht mehr auf dem Termin 2011.
Konkret beschlossen wurde bislang nur ein "Wachstumsbeschleunigungsgesetz", das neben Erleichterungen für Unternehmer und Firmenerben die Erhöhung von Kindergeld und Kinderfreibetrag vorsah - und die Einführung des ermäßigten Steuersatzes für das Hotelgewerbe, die seither für Empörung sorgt. Insgesamt kostet das Paket 8,5 Milliarden Euro pro Jahr, davon knapp 1 Milliarde für die Bettensubvention. Weil sich die Konjunktur inzwischen etwas besser entwickelt hat als zunächst erwartet, hofft die Regierung, den Steinbrückschen Finanzrahmen trotzdem einhalten zu können. Weitere Erleichterungen in Höhe von 14 Milliarden Euro hatte bereits die große Koalition beschlossen, darunter die erweiterte Absetzbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen. Sie sind bei den Schulden ohnehin schon eingerechnet.
Über den weiteren Kurs will die Regierung erst nach der nächsten Steuerschätzung im Mai entscheiden, die praktischerweise mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zusammenfällt. Herauskommen wird dabei vermutlich ein Stufentarif, der in Wahrheit keiner ist, und ein Inflationsausgleich, der immer näher an die nächste Bundestagswahl rückt.
Viel spannender ist die Frage, wie Schäuble kurzfristig zusätzliches Geld beschaffen will. Um die Vorgaben von Schuldenbremse und europäischem Stabilitätspakt einzuhalten, muss der Finanzminister bereits ohne Steuersenkungen jedes Jahr aufs Neue weiter 10 Milliarden Euro einsparen. RALPH BOLLMANN
GESUNDHEIT Die FDP will einen radikalen Umbau des Gesundheitssystems. Vorzeigbares hat sie noch nicht erreicht- außer für Verunsicherung zu sorgen
Philipp Rösler ist ein bemerkenswerter Politiker. Der junge Bundesgesundheitsminister von der FDP schafft es, zu jedem Sachthema seines riesigen Arbeitsgebiets einen knackigen Kommentar abzuliefern. Dabei ist nach drei Monaten im Amt noch immer unklar, was er mit dem sanierungsbedürftigen Gesundheitssystem anstellen will. Klar ist jedoch: Die Verunsicherung in der Bevölkerung und bei den Kassen ist enorm.
Am meisten verschreckt Rösler mit seinem Vorhaben, die gesetzliche Krankenversicherung umzukrempeln. Als FDP-Verhandlungsführer in Sachen Gesundheit hat er dafür gesorgt, dass im Koalitionsvertrag das Ziel vereinbart wurde, die "Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten" "weitgehend" zu entkoppeln. Das ist nichts Geringeres als das Ende des Solidarprinzips in einem Grundpfeiler des Sozialstaats: Demnach sollen sich die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung künftig nicht mehr am Einkommen des Kassenmitglieds bemessen. Stattdessen sollen die Bürger eine vom Einkommen unabhängige Pauschalsumme zahlen. Ein "Sozialausgleich" soll jenen helfen, die die Summe von möglicherweise 145 Euro im Monat nicht aufbringen können.
Mit diesem Plan verwirrt Rösler allenthalben: Die CSU fürchtet einen Aufstand der gesetzlich Versicherten gegen die Einführung der Kopfpauschale. Die CDU rechnet vor, dass der Sozialausgleich für Geringverdiener bis zu 35 Milliarden Euro im Jahr kosten könnte. Und Opposition wie gesetzliche Kassen bezweifeln, dass ein FDP-Mann zig Milliarden Euro an Steuergeld ins Gesundheitssystem stecken will.
Die Sorgen sind begründet: Vor einem Jahr schrieb der FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr in einem Buch, das er gemeinsam mit Philipp Rösler herausgab: Nur noch "die medizinisch unbedingt notwendigen Leistungen" sollten im gesetzlich fixierten Leistungskatalog stehen. Bahr ist heute Staatssekretär unter Rösler.
Auch die Kopfpauschale, das weiß Rösler, wird den steilen Anstieg der Gesundheitsausgaben nicht bremsen. Dass aber der renommierter Leiter der Arzneiprüfstelle IQWiG, Peter Sawicki, auf Drängen des Gesundheitsministeriums seinen Job verliert, lässt wenig Gutes erahnen. Die Pharmahersteller, so befürchtet die Opposition, werden leichter überteuerte Medikamente auf den Markt bringen können. Dies würde die Ausgaben der Kassen weiter in die Höhe treiben und noch mehr von ihnen unter Druck setzen, Zusatzbeiträge zu erheben. MATTHIAS LOHRE
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