: 10 Sek. absolute Freiheit
Die Befindlichkeiten gleichen sich. Aber die Gründe weichen himmelweit voneinander ab: „Auszeit“ vom theater strahl und „norway.today“ vom Grips
Gabi schluckt Pillen, Julie will von der Klippe springen. Die Befindlichkeiten gleichen sich in den beiden Theaterstücken „Auszeit“ und „norway.today“, die diese Woche im theater strahl und im Grips Theater Premiere hatten. Aber die Gründe für den Schlusspunkt weichen himmelweit voneinander ab. In „Auszeit“, von Regisseur Günter Jankowiak und dem Ensemble entwickelt, schicken die Grobheit eines Vaters, Alkoholismus der Mutter und sexuelle Gewalt die Kinder in eine Verzweiflung, die von Leben und Welt nichts mehr wissen will: Das volle Programm sozialer Konflikte schwelt im Hintergrund. An schwer erziehbaren Eltern leiden diese Jugendlichen, und ihr Versuch, mit einer eigenen WG aus dem Karussell der Weitergabe von Demütigung und Verhärtung auszusteigen, ist ebenso mutig wie berührend anzuschauen. Aber er fordert von Kindern auch nicht weniger, als es besser zu machen als alles, was sie vor sich sehen.
In „norway.today“ dagegen ist der Freitod eine existenzialistische Verlockung und letztendlich in philosophischem Hunger begründet. Der Ekel über den Fake des Lebens, über Verbindlichkeiten und Vereinbarungen, die immer auch ein Stück Lüge oder Heuchelei in sich tragen, bringt Julie und August zusammen. Sie suchen das „Echte“, und nicht zufällig begegnen sie sich dabei zuerst im Internet. „norway.today“ schrieb der Schweizer Autor Igor Bauersima, das Stück hat allein im Februar in vier bundesdeutschen Städten Premiere. Es lebt von der Lust an der Sprache, die von der Regisseurin Franziska Steiof in eine schlanke Inszenierung umgesetzt wird, die ganz dem Dialog und den Schauspielern vertraut.
Am theater strahl wird hart gearbeitet. Die vier Schauspieler Anne Golde Arnold, Emily Behr, Dirk Böhme und Christoph Keun haben ihr Publikum sofort im Griff . Exakt für die 100 Minuten des Stücks setzen die Schubsereien zwischen der ersten und zweiten Reihe aus, die zuvor gewechselten Beschimpfungen „lesbisch“ und „schwul“ verstummen, brav schalten sie Handys aus und setzen die Kopfhörer ab. Sie lachen über jeden Witz, mit dem Lars-Oliver den traurigen Jost nervt, lehnen sich mit Gabi gegen die Verbots- und Verdrängungskunst der Eltern auf, liegen der klugen Meike zu Füßen und dürsten mit ihr danach, dem Begrapscher von Gabi die Eier abzureißen. Am Ende beklatschen sie begeistert die Gründung der WG, in der die Jugendlichen ohne den Ballast der familiären Vergangenheiten neu beginnen wollen.
„Es gibt nur eine Art, alles zu haben: nach nichts zu verlangen“, weiß Julie in „norway.today“. Alles abzugeben, die Verantwortung für das Altpapier ebenso wie für den eigenen Charakter, das, denkt Julie (Angret Holicki), ist die absolute Freiheit, die sie auskosten will in den 10 Sekunden des Falls von der Klippe. August (Mathias Schlung), der mit ihr am Rand des Abgrunds das Zelt aufbaut wie für einen kleinen Abenteuerurlaub, ist vor allem empört über die ungerechte Einteilung der Welt in Looser und Gewinner. Gewinner wollen sie alle nicht sein, übrigens auch in „Auszeit“: Schuldig scheint ihnen schon derjenige zu sein, der die besseren Chancen seiner Ausgangsposition nutzt und andere damit hinter sich lässt. „Wer steht voll im Leben?“ „Fette Arschgesichter“: Da sind sich Julie und August schon nach Sekunden einig.
„norway.today“ beginnt mit dem Absoluten, der Verabredung zum Tod, und führt in den Zweifel, die Neugierde und die Erwartung. Per Video wollen sich Julie und August verabschieden, und in den Schwierigkeiten der Inszenierung vor der Kamera beginnen ihre Selbstbilder als toughe Nihilisten, die alles für sich entschieden haben, zu bröckeln. Sie haben in der Nacht am Abgrund im Zeitraffertempo die Geschichte einer Beziehung erlebt, über Machtspiele und Drohungen bis zum Glück. Das macht das Stück so spannend: dass unter der Voraussetzung, dass nichts mehr kommen wird, plötzlich alles möglich scheint. Hier wird der Zuschauer nicht nur gefordert, hier bekommt er auch viel geschenkt.
KATRIN BETTINA MÜLLER
„Auszeit“ in der Weißen Rose, Schöneberg, Martin-Luther-Straße 77, 15. und 19.–21. März, 11.00 Uhr; „norway.today“ 15. März, Schiller-Theater-Werkstatt, 19.30 Uhr
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