10 Jahre Indonesische Studentenproteste: "Ökonomisch nichts erreicht"
Vor 10 Jahren forderten Studenten vor der Trisakti-Universität in Jakarta den Rücktritt von Diktator Suharto. Vier von ihnen wurden dabei von Sicherheitskräften erschossen.
JAKARTA taz Das Wetter ist genau so schlecht wie damals", sagt Julianto Hendro Cahyono. Graue Wolken schieben sich über der indonesischen Hauptstadt Jakarta zusammen, und es dauert nicht lange, bis die ersten Regentropfen auf den Campus der Trisakti-Universität fallen.
"Damals", das war der 12. Mai 1998. Auf dem Parkplatz, wo jetzt unter hohen Bäumen die Autos der Studenten der Eliteuni stehen, hatten sich an diesem regnerischen Maitag tausende Studenten versammelt. Wie seit Wochen an vielen Universitäten, in vielen Städten forderten sie den Rücktritt von Diktator Suharto. Die Asienkrise hatte die Mittelschichtkinder politisiert. Nachdem der Wirtschaftsboom im Tigerstaat Indonesien ein jähes Ende gefunden hatte, waren sie urplötzlich von Abstiegsängsten bedroht.
Februar: Die Proteste der indonesischen Bevölkerung erfassen erstmals Jakarta. Im Zuge der Asienkrise fällt die indonesische Rupiah auf einen historischen Tiefstand. War im Vorjahr ein Dollar noch rund 2.500 Rupiah wert, waren es im Frühjahr 1998 17.000 Rupiah.
10. März: Suharto wird von der Beratenden Versammlung für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Zunehmend fordern Demonstranten im ganzen Land seinen Rücktritt.
14. März: Suharto gibt sein neues Kabinett bekannt. Es besteht aus "alten Bekannten", die Suhartos Pfründe sichern. Suhartos Tochter Siti Hardyanti Rukmana wird Sozialministerin, der verrufene Holzbaron Bob Hasan wird Industrie- und Handelsminister.
12. Mai: Sicherheitskräfte erschießen vier Studenten der Trisakti-Universität in Jakarta bei einer Demonstration auf dem Campus. In den darauffolgenden Tagen sterben bei Unruhen in Jakarta rund 1.200 Menschen.
19. Mai: 30.000 Studenten besetzen das Parlamentsgebäude in Jakarta.
21. Mai: Suharto tritt nach 32-jähriger Herrschaft zurück. Vizepräsident Habibie regiert das Land bis zu den ersten freien Wahlen 1999.
26. Mai: Die ersten politischen Gefangenen werden entlassen. Erstmals wird eine unabhängige Gewerkschaft zugelassen.
20. Juni: Präsident Habibie bietet dem von Indonesien 1975 annektierten Osttimor Autonomie an, widersetzt sich aber zunächst einem Unabhängigkeitsreferendum.
6. Oktober: Das oppositionelle Nachrichtenmagazin Tempo erscheint wieder. Es war 1994 verboten worden, nachdem es den Kauf von Schiffen aus Ex-DDR-Beständen kritisiert hatte.
22. Oktober: Das Parlament garantiert Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
"Wir haben hier Geschichte erlebt und Geschichte geschrieben", sagt der 35-jährige Hendro, der damals den Vorsitz des Studentensenats innehatte und die Proteste organisiert hat. Vier runde Gedenktafeln sind in die Platten des Parkplatzes eingelassen, jeweils ein Blumenstrauß steht daneben. Sie erinnern an die vier Studenten, die an jenem 12. Mai von Sicherheitskräften erschossen wurden. "Wir waren keine Radikalen, wir wollten nur auf Missstände aufmerksam machen", sagt Hendro, "doch sie haben meine Kommilitonen abgeschossen wie Tiere."
Amok - das Wort stammt aus dem Indonesischem. Amok steht für Unzurechnungsfähigkeit, für blinde Wut, für absolute Gewaltbereitschaft. Nach den Schüssen an der Trisakti-Uni erlebten viele Hauptstädter, was Amok bedeutet. "Gleich da drüben war es", Hendro zeigt auf die Hauptstraße vor der Universität, "da haben damals die ersten Autos gebrannt". 1.200 Menschen starben während der blutigen Mai-Unruhen. Vor allem Vertreter der als geschäftstüchtig bekannten chinesischen Minderheit wurden Opfer von Plünderungen, Vergewaltigungen und Totschlag. In Jakartas Chinesenviertel standen ganze Straßenzüge in Flammen.
Heute ist davon kaum noch etwas zu sehen. In den engen Gassen von Glodok, Jakartas Chinatown, herrscht reger Betrieb. Von Schildkröten über Räucherstäbchen bis zum Großbildfernseher wird hier mit allem gehandelt. Hupend schieben sich Autos und Mopeds vorbei am größten Elektronikmarkt der Hauptstadt, alle paar Minuten spuckt der glänzende rote Trans-Jakarta-Bus neue potenzielle Kunden an der Busstation Glodok aus. Vor zehn Jahren gab es hier kaum ein Haus, das nicht ausgebrannt war.
Gleich neben dem Elektronikmarkt scherzt Kuntjoro in seiner Apotheke mit einem Kunden, während er ihm mehrere bunte Pillen abpackt. Die alten Holzregale sind mit chinesischen Zeichen beschriftet, in einem Glasschrank stehen Keramiktöpfe mit weiß-blauer Glasur, an der Wand stapeln sich große Plastikdosen mit Pülverchen in allen erdenklichen Farben.
Kuntjoro heißt eigentlich Lim Bing Khoen, doch er benutzt diesen Namen nicht. Während der Suharto-Zeit wurden ethnische Chinesen zur Assimilierung gezwungen: Sie mussten einen indonesischen Namen annehmen, chinesische Zeitungen, Vereine oder Schulen wurden verboten. Im Wirtschaftsleben waren die handelstüchtigen Chinesen indes äußerst aktiv - auch, weil ihnen der Erwerb von Land oder eine Beamtenlaufbahn erschwert wurden. Den ökonomischen Erfolg gönnten ihnen jedoch viele der einheimischen Pribumi ("Söhne des Landes") nicht.
Die Gewalt der Maitage hat Apotheker Kuntjoro noch im Nachbarviertel Pancoran erlebt, wo er 1998 seine Apotheke hatte. "Ein unglaubliches Chaos", sagt der 64-Jährige rückblickend. Und fügt hinzu, dass die Chinesen schon immer diskriminiert wurden. "Wir sind geschäftstüchtiger und reicher, da ist Neid nicht weit", sagt Kuntjoro, während er seine Tageseinnahmen zählt. Heute jedoch, sagt der Apotheker, da fühle er sich sicher.
Am 21. Mai 1998 war Suharto schließlich zurückgetreten, sein Nachfolger Habibie kündigte Wahlen an. Seitdem hat Indonesien drei weitere Präsidenten erlebt, der amtierende, Susilo Bambang Yudhoyono, wurde 2004 erstmals direkt vom Volk gewählt. Die Geschichte der jungen Demokratie ist eine Erfolgsgeschichte. Wahlen verlaufen frei und ohne Gewaltausbrüche. Der Konflikt mit den Separatisten in Aceh wurde nach dem Tsunami von 2004 friedlich beigelegt. Viermal wurde die Verfassung geändert, Indonesien bekennt sich zu international geltenden Menschenrechtsnormen. Die Medien sind frei wie in kaum einem anderen asiatischen Land.
Für die chinesische Minderheit hat sich vieles verbessert: "Dass wir heute wieder offen unsere Kultur leben können, dass wir unsere Feiertage feiern können, das gibt uns mehr Sicherheit", sagt der geschäftige Apotheker Kuntjoro. Persönlich spürt er keine Feindschaft von Nachbarn, die Pribumi sind. "Überhaupt verkauf ich viel lieber an die Pribumi" sagt er. "Die Chinesen, die sind mir viel zu geizig." Kuntjoro, der wie ein Wasserfall plappert und ständig zwischen Indonesisch, Englisch, Chinesisch und Holländisch wechselt, lacht ein schelmisches Lachen.
"Wir Einheimischen sind dümmer, und außerdem sind die Chinesen fleißiger als wir", sagt Daeng Labuang. Der 68-Jährige ist seit über 30 Jahren Parkwächter am Markt von Glodok. Den Mob, der das Viertel vor zehn Jahren in Brand setzte, hat er aus nächster Nähe gesehen. Ob er nicht Angst hatte? "Ach was", sagt er mit entwaffnender Naivität, "das hab ich mir angeschaut, da gabs doch was zu kucken". Und was ist mit den Schlägen, Vergewaltigungen, Morden? Menschenrechtler haben tausende Fälle von abscheulichsten Verbrechen aus jenen Tagen dokumentiert.
"Das hab ich nie gesehen, das ist alles nur erfunden", sagt Herr Daeng und rennt los, um das nächste Auto einzuweisen. Überhaupt, sagt er, zurück auf seiner Bank, sei unter Suharto alles sicherer gewesen. "Suharto war schlau, der verstand zu regieren. Den Bauern gab er Dünger und Vieh. Auch uns Städtern ging es gut, das Essen war reichlich, die Schule war billig." Viele Indonesier empfinden wie Daeng. Der Ende Januar verstorbene Diktator hatte seinen Lebensabend ungestört in Jakartas Nobelviertel Menteng verlebt. Er musste sich weder wegen der während seiner 32jährigen Herrschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen vor Gericht verantworten noch dafür, dass er und seine Familie Milliarden von Dollar angehäuft hatten. Während Parkwächter Daeng die Vergangenheit und den „Vater des Aufschwungs“, wie Suharto noch immer ehrfürchtig genannt wird, lobt, fällt sein Urteil über die Gegenwart kritisch aus.heute gehe fast sein ganzes Einkommen für das Schulgeld seiner Kinder drauf. Die sollten schließlich mal was Besseres werden als er. Neun sind es, "alle von einer Frau" - Daeng verfällt in schnarrendes Gelächter. Das jüngste mache gerade sein Abitur. Für ein Studium reichte das Geld jedoch bei keinem.
Freut er sich darüber, heute in einer Demokratie zu leben, in der er frei wählen und seine Meinung sagen kann? Daeng winkt ab. Das Recht zu wählen ist ihm zur lästigen Pflicht geworden. "Ich bin es leid, die Wahlen können ohne mich stattfinden", sagt Daeng. "Was ist das denn für eine Demokratie, in der alle nur reden und sich an der Korruption nichts ändert", schimpft er lautstark.
Die Korruption ist das größte Entwicklungshindernis des Landes. Trotz eines Wirtschaftswachstums von rund fünf Prozent lebt die Hälfte der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag. Korruption schafft Armut, sie behindert Reformen im Justizsystem ebenso wie bei Polizei und Militär. Indonesien ist eines der korruptesten Länder der Welt, auf dem aktuellen Corruption-Perceptions-Index von Transparency International liegt es auf Platz 143 von 180 Ländern.
"Wir haben politisch viel erreicht.", sagt Exstudentenführer Hendro im Rückblick auf die letzten zehn Jahre. "Ökonomisch jedoch fast nichts." Die Lobeshymnen auf Indonesiens Wirtschaftwachstum dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass die alten Eliten weiter im Land die Fäden zögen, so Hendro. Der 35-Jährige, der nach seinem Studium ein erfolgreicher Banker wurde, will nun selbst in die Politik gehen. Er denkt, wie viele ehemalige Studentenaktivisten, die außerparlamentarische Opposition habe nichts gebracht.
Hendro sitzt mit den alten Kumpels an abgeschabten Tischen in der Kantine der Trisakti-Uni. Sie reden von Revolution, davon, dass sich alle zusammenschließen müssen. Dass sie nun selbst in die Politik gehen wollen. Welche Partei? Das scheint zweitrangig. "Hauptsache, man kann etwas bewegen." Schwer zu sagen, wem es hier um Gestaltung geht und wem darum, ein Stück vom Kuchen abzukriegen. Hendros Freund Dedy hat sich schon entschieden.
Auf dem Display von Dedys Handy prangt der grüne Waringin-Baum - das Symbol von Golkar, der Partei des ehemaligen Diktators. Dedy, der ehemalige Studentenaktivist, leitet heute eine Golkar-nahe Jugendorganisation. Die Karrierechancen des früheren Studentenführers dürften nicht schlecht sein - Golkar gewann bei den letzten Parlamentswahlen die meisten Stimmen.
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