10-Jährige trifft 100-Jährige: Noch nicht mal ein Krückstock
Unsere Autorin (10) hat Alice Undeutsch (100) besucht – in ihrem Fitnessstudio. Eine Jahrhundertbegegnung mit vielen Fragen, Sport und Tanz.
Ich habe mir eine hundertjährige Frau immer schmal und mit ganz wenigen Haaren auf dem Kopf vorgestellt. Aber ich hatte natürlich noch nie eine hundert Jahre alte Frau gesehen. Die gibt es ja nicht so oft. Und dann habe ich Alice Undeutsch kennengelernt.
Wir haben uns in einem Fitnessstudio in Berlin getroffen. Das Fitnessstudio war ein großer Raum mit vielen eigenartigen Geräten, die im Kreis standen. Überall hingen pinkfarbene Bilder. Auch Alice Undeutsch hatte ein pinkfarbenes T-Shirt an. Das macht man wohl so in diesem Fitnessstudio. Sie trainiert hier regelmäßig.
Ich war total überrascht von ihr. Sie hatte noch nicht mal einen Krückstock, und die Haare waren ganz voll, aber weiß. Und sie hatte zwar sehr viele Falten, aber die haben sie nicht wirklich alt gemacht. Eigentlich sah sie aus wie 70 oder 75. Also ungefähr so wie die anderen alten Leute, die ich kenne.
Überrascht hat mich auch, dass sie uns gleich ihre ganze Familie vorgestellt hat. Sie hatte Fotos von ihnen mitgebracht. Sie leben alle noch. Also die meisten. Sie hat uns ihren Mann gezeigt. Der ist aber schon über 20 Jahre tot. „Ein schöner Mann war das“, hat sie immer gesagt. Dann zeigte sie uns ihre beiden Kinder, die noch leben, ihre vier Enkel und ihre Urenkel. Sie trifft sie zu jeder Familienfeier.
Sie sind zwei der besten deutschen Schriftsteller: Jochen Schmidt stammt aus Ostdeutschland, David Wagner aus der alten Bundesrepublik. In der neuen taz.am wochenende vom 11./12. Oktober 2014 erzählen sie über Kindheit und Jugend im geteilten Deutschland, 25 Jahre nach dem Mauerfall. Außerdem: Boris Palmer ist grüner Oberbürgermeister von Tübingen. Ehrgeizig, nicht nur beliebt - jetzt möchte er wiedergewählt werden. Was hat er erreicht? Und: Ab Samstag talkt Ina Müller wieder im Ersten. Ihr Studio ist eine Kneipe im Hamburger Hafen. „Sabbeln und Saufen läuft“, sagt sie. Ein Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
An einem Gerät hat sie uns gezeigt, wie sie die Oberschenkelmuskulatur trainiert und die Oberarmmuskulatur. Es war erstaunlich, wie gut sie das konnte, ganz locker und entspannt. Sie hat gesagt, du musst jetzt auch mal trainieren. Ich habe so einen Wackelstab ausprobiert. Das war ein komisches Gefühl. Ich reite lieber oder spiele Hockey.
Bomben im Krieg
Wir haben uns darüber unterhalten, wie es im Krieg war. Ich wollte eigentlich gerne wissen, ob sie mal gehört hat, wie eine Bombe eingeschlagen ist und was sie dann gefühlt hat und ob Freunde von ihr in dem Krieg umgekommen sind. Ich wollte das wissen, weil ich finde, Freundschaft ist ein wichtiges Thema. Aber da wollte sie irgendwie nicht drüber reden. Sie kommt aus Dresden und meinte, sie hätte vom Krieg nichts mitbekommen. Das glaube ich ihr aber nicht wirklich. In Dresden ist ja im Krieg ganz viel passiert. Sie hat aber gesagt, dass ihre Familie in Dresden ein Geschäft hatte und dass sie darin im Krieg gearbeitet hat und dass sie deswegen nichts mitbekommen hat. Sie hat immer nur gesagt, ja nee, ich hab davon gar nichts mitgekriegt.
Sie war nie ernsthaft krank, hat sie erzählt. Einen Schnupfen hat sie natürlich schon mal gehabt, aber nichts wirklich Schlimmes. Ich habe mich gefragt, wie sie das wohl geschafft hat. Aber sie hat nur gesagt: „Ich habe eben immer gesund gelebt.“
Dann habe ich sie gefragt, wie es für sie war, als sie zehn Jahre alt war. Erst mal hat sie die Frage nicht verstanden. Sie hat 17 verstanden. Und sie hat erzählt, dass sie da einen Freund hatte und am Wochenende immer an eine Talsperre gefahren ist, mit der Bahn, und abends sind sie zusammen über einen See zurückgerudert. Dann hat sie mich gefragt, ob ich auch einen Freund habe. Ich habe gesagt, ich bin doch erst zehn. Und dann hat sie mir erzählt, wie es war, als sie zehn war. Das ist ja schon 90 Jahre her. Sie war damals bei ihrem Opa, weil ihr Vater früh verstorben war, und hat ihrem Opa bei der Arbeit geholfen. Er hat Heu und Stroh verkauft. Das war wahrscheinlich in diesem Geschäft in Dresden.
Immer nur Salat
Ich wollte auch gerne wissen, wie sie heute lebt. Sie hat erzählt, dass wenn sie Wasserkästen braucht, dann bestellt sie sich das Wasser nach Hause mit einer Kellerlieferung. Sie lässt sich die Wasserkästen bis in ihren Keller tragen. Darüber hat sie viel geredet. Dass wir, wenn wir einmal alt sind, das auch so machen sollen, und dass diese Kellerlieferung ganz wichtig ist. Wie sie sich das Essen liefern lässt, hat sie nicht erzählt, ich glaube, das Trinken war ihr wichtiger. Wahrscheinlich kauft sie das Essen selber ein. Sie hat gesagt, dass sie nie kocht. Bei ihr gibt es immer nur grünen Salat. Das ist, glaube ich, eine sehr gesunde Ernährung. Aber irgendwann muss sie doch mal Hunger haben auf was anderes. Aber davon hat sie nichts erzählt.
Ich will nicht so alt werden. Ich möchte nicht so lange allein sein. Denn wenn ich hundert werde, heißt das noch lange nicht, dass meine Freunde und meine Familie auch so alt werden. Und ich möchte nicht ohne sie leben. Ich habe mir vorgestellt, wie es für die Frau ist, ihr Mann ist ja schon so lange tot. Auch wenn sie ihre Familie oft sieht, sie lebt trotzdem allein. Sie wirkte ganz zufrieden, aber ich kann mir das für mich nicht vorstellen.
Mit hundert lässt das Gedächtnis ja auch ein bisschen nach, deswegen hat sie viele Fragen nicht beantwortet. Sie hat dann oft etwas anderes erzählt. Wahrscheinlich hat sie die Fragen nicht richtig verstanden. Dafür konnte sie aber noch tanzen. Sie hat das vorgemacht. Drei Schritte nach vorne, eins, zwei, langsam, eins, zwei, drei, schnell. Und die Arme hat sie dazu bewegt in Wellen. Ich würde nicht so tanzen, aber vielleicht hat man vor hundert Jahren so getanzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz