1. Mai-Proteste brutal niedergeschlagen: Ausnahmezustand in Istanbul
Die türkische Polizei ist bei 1. Mai-Kundgebungen brutal gegen friedliche Demonstranten vorgegangen. Zahlreiche Gewerkschafler wurden festgesetzt.
"Das ist ja wie im Krieg hier!" Erregt hält ein aus dem nahe gelegenen Hilton-Hotel herbeigeeilter deutscher Tourist mit seiner Video-Kamera fest, wie ein martialisches Polizeiaufgebot mit Tränengasgranaten und Wasserwerfern gegen tausende Demonstranten vorgeht. Mit äußerster Härte werden friedliche Demonstranten attackiert, weil sie versuchen, den zentralen Istanbuler Taksim-Platz zu erreichen, um dort ihre 1. Mai-Kundgebung abzuhalten.
Tatsächlich ist Istanbul am diesem 1. Mai eine Stadt im Ausnahmezustand. Um zu verhindern, dass die von den Gewerkschaften angekündigten 500.000 Teilnehmer der Kundgebung überhaupt das Stadtzentrum erreichen können, fahren die Fähren, die die asiatische mit der europäischen Seite der Stadt verbinden, nicht. Viele Busse bleiben im Depot und zwei U-Bahnlinien haben den Verkehr eingestellt. Obwohl die Regierung verschiedene Vorstöße im Vorfeld, den 1. Mai wie in Europa auch zum Feiertag zu erklären, abgelehnt hat, sind die meisten Läden geschlossen und auch viele Schulen ihre Pforten dicht gemacht.
Trotz der Behinderungen finden sich bereits in den frühen Morgenstunden tausende Gewerkschafter vor der Zentrale des linken Gewerkschaftsdachverbandes DISK ein, um von dort aus einen Demonstrationszug zu formieren, der bis zum Taksim-Platz führen sollte. Doch bereits um 7 Uhr morgens geht die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern dazwischen. Zeitweilig sitzen über tausend Menschen in der Gewerkschaftszentrale fest und werden von der Polizei nicht herausgelassen. Bis zuletzt hält die Regierung daran fest, dass das Gebiet um den Taksim-Platz für Demonstrationen tabu ist.
Der Streit um den zentralen Platz hat in der Türkei einen hohen Symbolwert. Vor 31 Jahren war es bei der 1. Mai-Kundgebung auf dem Taksim-Platz nach einer Provokation rechtsradikaler Gruppen zu einem regelrechten Massaker gekommen, bei dem die Polizei 36 Gewerkschaftler niederschoss. Schon im letzten Jahr hatten die Gewerkschaften vergeblich versucht, im Gedenken an die getöteten Genossen auf dem Taksim zu demonstrieren. Am Donnerstag wollen sie sich das Recht dazu nicht noch einmal nehmen lassen.
Von allen Seiten strömen trotz des Verbots einzelne Gruppen auf den Platz zu, immer wieder gestoppt von dem massiven Polizeiaufgebot, das mit äußerster Härte gegen die Demonstranten vorgeht. Allerdings geht in Istanbul nicht nur um politische Symbole. Unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds und sich verschlechternder Wirtschaftsdaten hatte die Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan erst vor wenigen Wochen gegen den massiven Widerstand der Gewerkschaften eine so genannte Sozialreform durchgesetzt, die Arbeitnehmer in wesentlichen Punkten schlechter stellt. Das Rentenalter wurde massiv heraufgesetzt und der Arbeitgeberanteil an der Krankenversicherung stark minimiert.
Verbale Scharmützel, bei denen Erdogan die Gewerkschaftler als irrelevantes Fußvolk der Gesellschaft beschimpfte, hatten die Atmosphäre zusätzlich angeheizt. Auf der Straße behalten die aus allen Teilen des Landes herbei gekarrten Polizisten letztlich die Oberhand, politisch dürfte der gestrige Tag für die Regierung Erdogan allerdings ein Phyrrus-Sieg werden.
Von der kemalistischen Justiz mit einem Verbotsverfahren unter Druck gesetzt, hat sie sich mit ihrem polizeilichen Vorgehen die Sympathien der Gewerkschaften und der Linken im weitesten Sinne nun wohl endgültig verspielt.
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