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… und raus bist du!taz-Debatte „Berlin nach Pisa: Wo bleibt die Chancengleichheit?“ (Teil 10)

Deutsch lernen muss Priorität haben – schon vor der Schule. Von Sven Walter

Nicht erst seit den Ergebnissen der Pisa-Studie ist klar: Von Chancengleichheit kann im deutschen Bildungssystem kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Kinder aus armen und eingewanderten Familien haben es schwer. In Berlin besuchen sie vor allem Kitas und Grundschulen in den Innenstadtbezirken. Was tun mit diesen Bildungseinrichtungen? Wie können sie allen Kindern gleiche Chancen eröffnen? Diesen Fragen widmet sich immer dienstags eine Debattenserie der taz. Vor zwei Wochen forderte der FU-Schulpädagoge Jörg Ramseger, Kinder schon in den Vorklassen nach Familiensprachen aufzuteilen, um sie dann konsequent zweisprachig zu erziehen. Denn die Förderung der Erstsprache, so Ramseger, erleichtert und unterstützt den Erwerb der Zweitsprache. Der Sprachwissenschaftler Sven Walter ist anderer Meinung und antwortet heute auf Ramseger.

ach den erschreckenden Ergebnissen der Pisa-Studie zur Lesefähigkeit von Jugendlichen in Deutschland zeigt nun die Berliner Sprachstandserhebung „Bärenstark“ ein mindestens ebenso alarmierendes Bild von der Sprachkompetenz in der deutschen Sprache bei Kindern, die im nächsten Schuljahr eingeschult werden. Die Mehrzahl der Kinder, deren geringe sprachliche Fähigkeiten im Deutschen ihnen von Anfang an ungünstige Perspektiven für schulischen Erfolg und berufliche Chancen geben, stammt aus Migrantenfamilien.

Dass im Interesse dieser Kinder mehr und anderes getan werden muss als bisher, ist Konsens. Welche Schritte hierfür kurz- und langfristig unternommen werden müssen, wird jetzt erfreulicherweise in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit mit neuer Intensität diskutiert. Unter Berufung auf Untersuchungen aus der Spracherwerbsforschung schlägt Professor Jörg Ramseger nun zweisprachige Erziehung in muttersprachlichen Klassen für die Grundschule vor (taz Berlin vom 28. 5. 2002).

Unter verschiedenen Aspekten wird dieses Modell den tatsächlichen Gegebenheiten in Berlin nicht gerecht: Davon abgesehen, dass die Aufteilung von Kindern in muttersprachliche Klassen die gesellschaftliche Integration sicher nicht fördert, wird die längerfristige Lebensperspektive der Kinder nicht angemessen berücksichtigt. Die Mehrheit von ihnen wird in Deutschland ihre Schul- und Berufsausbildung (wenn die Deutschkenntnisse dies ermöglichen!) durchlaufen und hier leben und arbeiten. Da ist die deutsche Sprache nun mal relevanter als Türkisch, Arabisch, Polnisch und all die anderen Sprachen, die in Berliner Familien gesprochen werden.

Dass eine altersgemäß entwickelte Erstsprache die beste Grundlage für den Erwerb einer Zweitsprache bildet, darf als Konsens in der Spracherwerbsforschung gelten. Übrigens auch, dass alle Kinder unter normalen Bedingungen die Fähigkeit haben, im vorschulischen Alter zwei oder gar drei Sprachen ganz natürlich zu erwerben, ganz ohne institutionelle Förderung. Und natürlich lässt sich eine Zweitsprache auch auf der Grundlage einer schwach entwickelten Erstsprache erwerben. Unzählige Migranten- und Flüchtlingsbiografien belegen dies weltweit.

Zweisprachige Erziehung in Kindertagestätten und zumindest Grundschulen als notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb im Deutschen zu fordern, ist deshalb nicht zwingend und ignoriert zudem die sprachliche Wirklichkeit vieler Kinder: Angesichts der heterogenen Sprachkonstellationen in Berliner Familien dürfte es in vielen Fällen schwierig oder gar unmöglich sein zu bestimmen, welches die zu fördernde Herkunftssprache eines Kindes ist. Warum zum Beispiel das als Nationalsprache des Herkunftslandes in einer Familie auch gesprochene Türkisch und nicht das Kurdische oder Arabische, in dem die Gespräche viel häufiger geführt werden? Modelle zweisprachiger Erziehung unter den Bedingungen sukzessiven Zweitsprachenerwerbs (der Erwerb der Zweitsprache beginnt deutlich später als der Erwerb der ersten Sprache, also z. B. mit dem Eintritt in eine Kindertagesstätte) setzen eine altersgemäße Entwicklung in der Erstsprache als Grundlage für einen erfolgreichen Zweitspracherwerb voraus. Diese Voraussetzung bringen jedoch viele Kinder aus Migrantenfamilien nicht mit. Der Verweis darauf, dass Kinder vielleicht nur wenig Deutsch könnten, dafür aber in ihren Familiensprachen beachtliche sprachliche Leistungen zeigten, mag in Einzelfällen zutreffen, in der Regel jedoch leider nicht.

Zwar gibt es noch keine systematischen Untersuchungen zur Sprachkompetenz von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache in ihren jeweiligen Erstsprachen, punktuelle Untersuchungen auf der Grundlage spontaner Äußerungen von türkischsprachigen Kindern im Türkischen sowie Beobachtungen türkischsprachiger ErzieherInnen deuten aber eher darauf hin, dass in vielen Fällen die schlechten sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen mit ähnlich schlechten Fähigkeiten im Türkischen einhergehen. Auch erste Ergebnisse des zurzeit in Hamburg erprobten Verfahrens zur zweisprachigen Sprachstandserhebung (deutsch und türkisch) belegen nicht gerade gute Türkischkenntnisse. Beide Sprachen in der Kindertagesstätte so intensiv zu fördern, dass die Kinder bei der Einschulung für eine Alphabetisierung in Türkisch und dann Deutsch fit sind, dürfte unter diesen Bedingungen kaum möglich sein.

Im Interesse der Kinder müssen realistische Schwerpunkte für die Förderung sprachlicher Kompetenz gesetzt werden. Förderung in der Erstsprache ja, aber in erster Linie durch die Eltern, schließlich sind die allerersten Lebensjahre hier die wichtigsten. Verbesserte Förderung der Zweitsprache Deutsch in den Kindertagesstätten mit dem Ziel, bis zur Einschulung ausreichende Fähigkeiten im Deutschen zu vermitteln!

Die von Bildungssenator Klaus Böger geplante frühzeitige Sprachstandserhebung in der deutschen Sprache bei Vierjährigen und die Verbesserung der Qualifikation von ErzieherInnen sind daher erste Schritte auf dem richtigen Weg. Verstärkte Sprachförderung in der Unterrichtssprache Deutsch möglichst schon im vorschulischen Bereich, nicht Fernhalten vom Deutschen in muttersprachlichen Klassen, eröffnet reelle Bildungschancen für Kinder aus Migrantenfamilien.

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