Maja Göpel über die Zahlen der Ökonomie : Wow, Wachstum!
Maja Göpels neuer Essay beschäftigt sich mit den Zahlen der Ökonomie. Erklären uns Zahlen die Welt oder verstellen sie uns den Blick auf das, was zählt?

taz FUTURZWEI | Zahlen geben Sicherheit. Zumindest tun sie so. Sie wirken nüchtern, objektiv, vertrauenswürdig. Eine Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent, ein CO2-Ausstoß von 9 Tonnen pro Kopf, ein Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent – klare Sicht. Planung, Prognosen und Proportionen vermitteln Orientierung in einer Zeit, die sich immer unübersichtlicher anfühlt. So weit, so verständlich.
Das Problem ist nur: Viel zu selten fragen wir danach, was denn in den Zahlen erfasst wird. Allzu oft verwechseln wir das Messbare mit dem Wesentlichen. Oder lassen nur das gelten, was sich messen lässt – und blenden alles andere aus. Was nicht in eine Metrik passt, fällt aus der Debatte.
Dabei sind Zahlen Werkzeuge, keine Wahrheiten.
Doch in der Art, wie wir sie heute benutzen, wirken sie oft wie kleine Diktatoren. Der US-amerikanische Autor und Landwirt Wendell Berry hat dafür ein präzises Wort gefunden: „tyrannesisch“.
Das beschreibt eine Sprache, in der Begriffe und Kennzahlen sich so weit vom echten Leben entfernt haben, dass sie mehr verschleiern als erhellen. Es ist eine Sprache, in der nur das erzählt wird, was leicht zu zählen ist – und das, was zählt, übersehen wir dabei.
Unangenehmer Nebeneffekt ist ein Grad der Anonymität und Abstraktion, hinter dem Menschen, Leben, Tiere, Umgangsformen allesamt verschwinden können. Sterile Zahlenschieberei schützt vor Empathie und Legitimitätsfragen.
Wirtschaftsindikatoren sind dabei besonders dominant und blind zugleich: Wow, Wachstum, Profite und Aktienwerte steigen, dann muss alles auf einem guten Weg sein! In stoischer Ignoranz gegenüber jahrzehntelanger Kritik werden Mittel weiter schlicht als Ziele verkauft. Denn ob längerfristig gesellschaftlicher Fortschritt dabei rauskommt, können diese Kennzahlen allein gar nicht sagen.
Garrett Hardin, Biologe und Umweltethiker, hat einmal drei Leitfragen formuliert, die helfen, sich vor dieser Selbsttäuschung zu schützen. Er nannte sie „Filters against folly“ – Denkfilter gegen Dummheit. Sie lauten:
1. Was sagen uns die Zahlen wirklich – und was nicht?
Ein Beispiel: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst, also geht es uns gut, heißt es.
Aber das BIP misst nur den monetären Fluss – nicht, ob er dem Gemeinwohl dient. Umweltkatastrophen und Kriege sind dann gut fürs BIP, wenn Aufräumarbeiten und Aufrüstung anfallen. Pflegen Angehörige ihre Eltern selbst, taucht das im BIP wiederum nicht auf. Wird diese Sorgearbeit hingegen ausgelagert und bezahlt, steigt es.
Aber ist die Gesellschaft dadurch reicher geworden? Oder nur anders organisiert? Das BIP kennt die Antwort nicht. Es misst die Aktivität – nicht deren Sinn oder Lebensrealität.
2. Welche Sprache sprechen wir, wenn wir über das Problem reden?
Sprache formt Wirklichkeit. Wenn wir über den „Verlust an Wettbewerbsfähigkeit“ sprechen, aber nicht über den Verlust an Bodenfruchtbarkeit oder Artenvielfalt, liegt das nicht daran, dass Letzteres weniger bedeutsam wäre.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
Sondern daran, dass es seltener zur Sprache kommt – oder in eine Sprache gepresst wird, die der Ökonomie entlehnt ist: Humankapital, natürliche Ressourcen, Kosten-Nutzen-Rechnung. So machen wir Menschen zu Objekten und Ökosysteme zu Lieferketten. Dummerweise steigt die kurzfristige Wettbewerbsfähigkeit besonders für Anbieter, die möglichst billig liefern können – was häufig durch Ausklammern der Effekte auf Ökosysteme oder Arbeitsalltage von Menschen erreicht wird.
Das heißt dann „Externalisierung“. Wo „extern“ ist und wer mit den Konsequenzen lebt, verschwindet aus unserer Wahrnehmung. Dem Wirtschaften inhärente Effekte formen aber unsere Zukunft.
3. Und die wichtigste Frage: Und dann?
So gern versprechen wir uns, dass es nur diese eine Lösung braucht oder den einen Durchbruch – Technologie, ich hör dir trapsen – und dann ist auch wieder gut. Ruhe im Karton. Leider ist das in komplexen Systemen nie so, denn jeder Schritt heute verändert die Wirklichkeit morgen und damit auch die Ausgangsbasis aus der heraus wir Planung, Prognosen und Proportionen ableiten können.
Deshalb ist es so wichtig, die Zahlen und Erzählungen, mit denen wir diese erstellen, immer wieder an den neuesten Weltveränderungsstand anzupassen. Und sich immer darauf einzustellen, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen werden ...
Gerade in Krisenzeiten sind diese drei Fragen entscheidend. Denn dann entstehen zwei Gefahren: Entweder wir suchen Sicherheit in den bekannten Zahlen und Erzählungen, ohne zu erkennen, dass sie veraltet sind. Oder wir entkoppeln uns völlig vom Wissen und Wissenwollen, um die Gefühle ans Steuer zu holen. In beiden Fällen wird keine gute Zukunft daraus.
Doch das muss nicht so sein. Wir können unsere Werkzeuge neu kalibrieren. Zahlen sind dabei nicht das Problem. Sie können helfen, Entwicklungen sichtbar zu machen, Ungleichheiten zu benennen, Ressourcen zu verteilen.
Aber sie brauchen Einbettung. Ein Ziel. Eine Wertebasis. Nur dann dienen sie der Gestaltung, nicht der Ablenkung oder Machtsicherung.
Denn was uns wirklich weiterbringt, sind die Fragen: Was ist uns wichtig? Was wollen wir schützen, was ermöglichen, was verändern? Dafür brauchen wir auch Zahlen – aber vor allem den Mut, das Ganze zu sehen.
Eine Kultur des Lernens, Vertrauen in die Kooperation und die Größe, auch mal was loszulassen, was nicht mehr liefert. Dann ist auch der Anspruch, Mittel und Ziele zu unterscheiden, wieder hergestellt. Ziele first und passende Zahlen und Erzählungen, um den Fortschritt zu messen, second.
Wirklich wegweisend ist deshalb noch eine vierte Frage. Sie orchestriert die Einleitung, die Präambel, die gesellschaftliche Übereinkunft und den politischen Willen, woran sich Fortschritt und Lösungen messen lassen sollten. Sie ist den Denkfiltern gegen Dummheit noch vorausgestellt und kann – so meine Erfahrung – besonders gut von Kindern beantwortet werden.
Die Frage lautet: Worum geht es hier eigentlich?
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